Das türkische Beispiel

/ Haimo L. Handl

Das Land am Bosporus gilt seit langem als aufwärtsstrebende Nation, wirtschaftlich erfolgreich, prosperierend, islamisch gemäßigt. Das ‘Kurdenproblem’ wurde ‘annehmbar’ gelöst. Aber die Großmachtsucht der Türkei, vor allem getrieben von der Führerqualität ihres Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, schafft Probleme. Weniger außenpolitisch, obwohl die Türkei jeden Aufstand, jeden Krieg in der Region nutzt, um ihre Position als Leitmacht der Region zu stärken. Vielmehr innenpolitisch. Es geht diesmal nicht um den Islam und die Ungläubigen. Es geht um die Zivilgesellschaft.

Die Türkei hat mit ihrer Modernisierung trotz der islamischen Ausrichtung und der kontinuierlichen ‘Islamisierung’ durch die Regierungspartei AKP, Adalet ve Kalkınma Partisi, eine Mittelschicht, vor allem in den Städten, die nicht mehr einhellig, wie früher, den paternalistischen Regierungsstil hinnehmen will, die nicht mehr die Einschränkungen und Bevormundungen ihres obersten Führers, des Paten, akzeptieren will.

Bislang war die Tatsache in Europa nie ein Problem gewesen, dass nach Russland die Türkei das Land ist mit der schlimmsten, grausigen Bilanz bezüglich Medienunfreiheit, Verfolgung von Journalisten, Terror und Folter. Auch die fehlende Religionsfreiheit, die Verfolgung Andersdenkender störte nicht wesentlich. Das wurde, außer in einigen verbalen Anmerkungen, realpolitisch hingenommen.

Die Spaltung der Nation, die der Pate jetzt losgetreten hat, alarmiert nun jedoch weite Kreise: das Erfolgsmodell bekam Kratzer, und Schlimmeres ist zu befürchten. Was die einen fürchten, Erdoğan und seine Gefolgsleute, ist für die anderen der Hoffnungsschimmer, nämlich eine Änderung des quasi diktatorischen Regimes, das sich am berauschenden Bild des ottomanischen Großreiches orientiert und meint, wirtschaftliche Entwicklung, Modernisierung, mit einem fast schon islamo-faschistischen Regime verbinden zu können.

Es geht längst nicht mehr um Bauvorhaben, die an den Größenwahn eines Nicolae Ceaușescu erinnern, es geht um die Zivilgesellschaft, der kein Raum gewährt wird. Es sind nicht nur die Studenten und jungen Leute, die aufbegehren. Es ist ein Teil der Mittelklasse. Aber nur ein Teil eben. Der größere steht hinter Erdoğan und seiner Unterdrückung, die als einziger, richtiger Weg für die islamische Türkei gesehen wird. Da die Regierung eben diese Anhängerschaft mobilisiert, wird der Konflikt in naher Zukunft eskalieren. Das verheißt für die Türkei nichts Gutes.

Interessant die Argumentation des Paten. Er schimpft die Demonstranten als vom Ausland finanzierte Terroristen, die das schöne, geliebte Land bekämpften und gefährden. Die bereits geknebelte Medienszene wird noch stärker unterdrückt und kontrolliert. Neue Verordnungen sollen die Nutzung der Social Media einschränken. Die Verfolgungen werden intensiviert. Weitere Gefängnisse müssen errichtet werden, um die zu erwartenden Verhafteten als Gefangene wegsperren zu können. Ein Krieg wäre eine willkommene Ablenkung, ein Mittel der Festigung des Kurses des Paten Erdoğan.

Irgendwie erinnert dieser Führer an den Kaiser Franz Josef, der seine Zeit nicht mehr verstand und im besten Glauben sich als geliebter Vater, als Übervater des Vielvölkerstaates sah. Erdoğan ist moderner. Trotzdem zeigen seine Wertauffassungen und sein Weltbild eine vorgestrige, unmoderne Haltung und Orientierung. In dem Maße, wie die Türkei die zaghafte Modernisierung beibehält, wird die Kluft wachsen. Das Land wird auf die Probe gestellt.

Faschistische, diktatorische Länder können paradoxerweise zugleich ‘modern’ und wirtschaftlich potent sein; wir kennen viele Beispiele. Aber wenn die Zivilgesellschaft einmal etwas Freiheit gekostet und genossen hat, ist der Keim des Veränderungswillen, des Verlangens nur mehr durch Polizeiterror oder Bürgerkrieg auszurotten. (Ein ähnliches Problem hat Russland.) Das macht auch verständlich, weshalb fast alle islamischen Länder so vehement auf dem Islam als politischem Programm beharren, um die Modernisierung nur partiell zu akzeptieren und die Bevölkerung auf Leine zu halten.

Erdoğan unterstützt die Terroristen und Mordbanden gegen das syrische Regime. In seinem Land, das wirklich ‘seines’ ist und das er nicht in eine Demokratie entlassen will, nennt er Demonstranten Terroristen. Welch eine Ironie! Wie würde ein Erdoğan handeln, wenn diese sogenannten Terroristen wirklich welche wären, unterstützt vom Westen und Israel? Wenn sie Waffen und Finanzen für ihren Widerstand bekämen, wie die Krieger in Syrien, die im Westen in einer eigentümlichen, befremdlichen Verkennung nur ‘Oppositionelle’ genannt werden? Wir erleben eine perverse Umkehrung. Bei Erdoğan reicht schon ein zivilgesellschaftlicher Protest, um mit der Armee zu drohen. In Syrien wird das Vorgehen der Regierung gegen Rebellen und Mörder, die mit Gewalt es stürzen wollen, als unrecht und unverzeihlich hingestellt.

Würden die europäischen Regierungen nicht so willig den amerikanischen Vorgaben folgen, wären sie nicht selbst an Kriegen und Kriegsgewinnen im Sinne der westlichen (und israelischen) Hegemonialpolitik interessiert, sie verhielten sich anders: gegenüber Syrien, gegenüber der Türkei.

So aber hat der Pate Chancen, sein Land in bewährter, mafiotischer Art zu regieren, zu kontrollieren, zu ‘verwalten’, koste es, was es wolle.

Der Konflikt ermöglicht nun aber plötzlich andere Berichte aus dem Land und seinen tiefverwurzelten Problemen. Diese Probleme lassen sich nicht mehr mit Kopftuchgeschichten und Toleranzblabla abspeisen. Für einmal geht es nicht primär um Religion und moslemische Kultur, sondern um das herrische Vorgehen gegen muslimische Bürgerinnen und Bürger in einem islamischen Land, das eigentlich modern sein wollte.