Interpretationslos

/ Haimo L. Handl

Es ist wie es ist. Klingt ähnlich wie die Forderung, ‘Eure Rede sei ja/nein’. Zu simpel und daher falsch. Nichts ist, wie es ist, weil alles scheint. Es gibt keine Dinge an sich, die gibt es nur als Konstrukte. Unabhängig davon, was es objektiv gibt, perzipieren wir nur, was erscheint. Die Wahrnehmung erfolgt zeichenvermittelt. Zeichen stehen für etwas Anderes. Sobald das Zeichen nicht als Zeichen, sondern als Objekt gesehen wird, verliert es seine Zeichenfunktion, kann nicht mehr weisen, repräsentieren. Ohne Zeichen keine Kommunikation.

Fast nichts ist eindeutig. Was uns eindeutig erscheint, scheint so, je nach der Wertstruktur, dem Bedeutungsgefüge, dem Symbolsystem, das wir nutzen bzw. je nach den Regeln, die festlegen, welche Merkmale ‘eindeutig’ sein sollen. Alles andere ist nie eindeutig. Daher kann es auch keine Absoluta geben und keine absolute Wahrheit. DIE Wahrheit ist genauso ein Konstrukt, ein unfrommer Wunsch, eine anmaßende Forderung, wie andere Hirngespinste. Aber es gibt Annäherungen an das, was wir wahr nennen, und morgen, nach erweitertem Kenntnisstand, als nicht mehr ganz wahr oder gar unwahr sehen. Das ist der Wissensgang.

Nur im Glauben meinen Geängstigte jene Sicherheit der unabänderlichen, ewigen Wahrheit zu finden. Aber die vielen Versuche sich gegen Häretiker zu erwehren, gegen das Bohren der Vernunft, die fragt und fragt, zeigen, wie brüchig der Boden dieser Glaubensüberzeugungen ist. Fast möchte man meinen, weil Gläubige darum wissen, ein einem eigentümlichen Paradoxon, sind viele von ihnen unduldsam, intolerant, brachial im Abwehren. Die Historien der Mordzüge und Kriege im Namen irgendeines Glaubens sind Legion. Das Programm gegen Ungläubige hat auch im 21. Jahrhundert nichts von seiner Vehemenz eingebüßt. Die Gläubigen sind, in vielen Fällen, unverbesserlich. Eine Tragödie.

Wenn wir wahrnehmen, erkennen, interpretieren wir. Manchmal fast unbewusst, manchmal gesucht und alert in den Gedankengebäuden sich bewegend. Nie nehmen wir etwas ‘als solches’ wahr, als ‘an sich’. Immer betten wir es ein in unser Sinngefüge, in unser Bedeutungsverständnis. Das ist bei einem weniger komplex, beim anderen hoch differenziert und verzweigt. Aber nie ist es bar und bloß.

Wissen (Verstehen) ist immer mehr als Datenkenntnis. Ein kleines Beispiel: Ein noch so detaillierter Geschichtsatlas mit abertausenden von Daten ersetzt nicht die historische Deutung oder Erklärung. Die Daten werden erst ‘sinnvoll’, wenn sie verständig gelesen, also interpretiert werden. Dafür braucht es Kenntnisse. Sonst liegen die Daten vor einem wie potentielle Zeichen einer Fremdsprache, die man nicht zu entziffern vermag. Bedeutungen liegen in den Relationen, den Verbindungen. Zusammenhänge müssen ausgemacht und erkannt werden. Im Einfachen wie im Komplexen, im Kleinen wie im Großen.

Kein Text kann sinnhaft und sinnvoll nur als Text, was immer das sein soll, gelesen werden. Einen fremden oder unbekannten Text muss man, wenn man die Kodes erlernt hat ihn zu entziffern, verankern, verorten, damit er sinnvoll verstanden, das heißt, interpretiert werden kann. Deshalb können wir alte Texte, die von Klassikern zum Beispiel, immer wieder lesen. Weil sich zwar der Text nicht ändert, aber die Kenntnisse der Leser sich geändert haben oder neue Leser mit anderen Kenntnissen sich dem alten Text nähern. Die Vielfalt der unterschiedlichen, sich oft auch widersprechenden Interpretationen bildet einen Teil des Reichtums der Kulturen. Gäbe es EINE Wahrheit, bedürften wir keiner Interpretation, sondern nur dieser Wahrheit. Aber dann ginge es uns wie dem allwissenden Wesen, das, aufgrund seiner Allwissenheit nicht mehr kommuniziert, nicht mehr kommunizieren muss, da es alles weiß.

Wir Menschen aber sind kommunikationsbedürftig – und freuen uns der Interpretationen. Außer jene vielleicht, die die Vielfalt schreckt, und die gierig sind nach einer göttlichen Sicherheit der Einfalt und Eindimensionalität, wie sie die eine wahre Wahrheit verspricht.