Mörderische Misanthropie

/ Haimo L. Handl

Nachdem der zweite mutmaßliche Mörder des Boston-Anschlags nach einer beispiellosen Jagd gefangen werden konnte, machte sich allgemeine Erleichterung breit. Langsam sickern Daten an die Öffentlichkeit. Es zeigt sich doch ein etwaiger ideologischer, islamischer Hintergrund einer spezifischen Misanthropie, die Terroristen oder Gewalttäter antreibt. Momentan bleibt vieles Spekulation und Vermutung.

Die brennenden Fragen formulierte auch Präisdent Obama. Man müsse herausfinden, weshalb junge Menschen, die in den USA leben, zu solchen Gewalttaten finden. Was treibt sie?

Die beiden Brüder, Tschetschenen, von denen einer auf der Flucht umkam, waren vor gut einem Jahrzehnt in die USA emigriert und konnten sich dort gut integrieren. Weshalb einer in seiner russischen Facebook-Seite dennoch notierte, er habe keine amerikanischen Freunde, er verstehe die Amerikaner nicht, bleibt gegenwärtig noch ein Rätsel.

Unbedarft fragt man sich, weshalb jemand, dem so eine moderne, pluralistische Gesellschaft total fremd ist, just dorthin auswandert. Falsche Vorstellungen? Hass, weil sich die Realität nicht mit den eigenen Erwartungen deckt? Aber welche Realität deckte sich daheim? Immerhin führten Probleme daheim zur Auswanderung, zur Flucht. Sollen jene, die aufnahmen, nun als neue, eigentliche Feinde, zahlen? Ja, sie sollen attackiert, getroffen werden.

Terroristen haben meist keine Schwierigkeiten mit der Legitimation ihres mörderischen Handelns. Die Ideologie, vor allem die Religion, bietet ein unerschöpfliches Reservoir an Begründungen für selbstgerechtes Wütertum. Das ist nicht neu.

Dort, wo es sich um direkten Widerstand handelt, um Aufbegehren oder Revolte gegen Okkupation, Unterdrückung etc., greift eine nachvollziehbare Logik. Dort, wo der Feind nebulos allgemein in der verhassten Gesellschaft gesehen wird, weil sie nach anderen Werten organisiert ist und lebt, als man sie selber pflegt, wird die Sache komplizierter. Es handelt sich um einen Triumph der Intoleranz, die von vielen Nachsichtigen bei uns geteilt wird, als ob vermeintliche Opfer sich wehren. Dabei bleibt das Objekt und das ‘Wie’ meist außer betracht.

Worin liegt der Unterschied zwischen solchen Terroristen und denen der NSU? Sind die Aktionen der NSU anders zu bewerten als die der früheren RAF? Hat der Staat immer unrecht?

Auch bei uns gibt es eine große Minderheit, die den Staat allgemein als Feind sieht und sich (insgeheim) freut, wenn Terroristen zuschlagen, so lange sie persönlich davon nicht berührt werden. Es herrscht ein Klima der Gewalt, der verschobenen Rechtsansichten und Verständnisse von Legitimität. ‘Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.’ Das scheint fast alles zu legitimieren, weil man nur behaupten muss, und manchmal auch behaupten kann, der Staat sei hier und dort im Unrecht, also sei Widerstand gerechtfertigt. Welcher? Auch der mörderische?

Es ist die Kardinalfrage der Rechtfertigung. Bemerkenswert ist, dass die meisten terroristischen Täter aus Gesellschaften stammen, die keine uns vergleichbare Rechtskultur kennen, keine Rechtsstaatlichkeit. Oder verbitterte, enttäuschte, wütende, zornige Leute sind, denen das Spektrum der Kritik, das unsere westlichen Gesellschaften bieten, als untauglich und ungenügend erscheint, weshalb sie das Recht selber in die Hand nehmen. Dass sie dabei eine Art krimineller Lynchjustiz vollziehen, wird nicht bedacht oder weggeredet.

Auch eklatante Missstände im Staat rechtfertigen keinen Terror. Die Staaten müssen auf ihr Gewaltmonopol pochen. In Europa haben die exjugoslawischen Länder bewiesen, wie schrecklich barbarisch das Leben wird, wie mörderisch, wenn dieses Monopol gebrochen wird, wenn Fraktionen, saatliche und halbstaatliche sowie private, sich offen bekriegen, ‘ethnisch säubern’, verfolgen, foltern, töten.

Ähnliches ‘erlauben’ viele Staaten im Westen auch mafiotischen Organisationen, die als Staat im Staat ihren eigenen Terror ausüben. Es gibt fast kein Land mehr, das frei von diesen syndikalisierten Verbrecherorganisationen wäre. In dem Maße, wie sie frei kriminell operieren können, hat der Staat versagt, hat das Unrecht obsiegt. Das prägt auf die Dauer das Misstrauen gegen den schwachen Staat, weckt Hass und Wut, und bildet den Nährboden für Terror oder terrorähnliche Aktionen.

Die USA haben in ihrem rechtlichen Selbstverständnis eine breite und tiefe Basis in der Bevölkerung, anders als in vielen europäischen Ländern. Das macht sie zwar nicht weniger aggressiv oder politisch bedenklich, prägt aber positiv die Rechtskultur. Der große Unterschied zu Europa liegt im Fehlen einer gehätschelten Opferkultur, die bei uns in Europa grassiert und mithilft, elementare Rechtsprinzipien aufzuweichen. Unter anderem solche der persönlichen Verantwortung. Auch das gehört zum Bild des Einzelnen im Kollektiv, des Bürgers im Staat und zum Rollenverständnis beider.