Bildung als Education

/ Haimo L. Handl

Seit der Wende in den 1990erjahren triumphieren die Freiheit und der Kapitalismus. Für viele ist der Sieg des Konkurrenz- und Verschwendungssystem so fundamental, dass sie fundamentalistisch, unduldsam, borniert und verbissen diese ihre Freiheit im Auge haben, und sonst gar nichts. Dass etliche mehr Freiheiten genießen und gebrauchen, als andere, wobei die ‘Anderen’ die Mehrheit bilden, beweisen die tausendfachen Korruptionsfälle, die kriminellen Machenschaften der Banker, die üblen Geldpolitiken, die mafiotischen Geschäftsmethoden, die Steuerlasten.

Aber nicht nur die Ökonomie wird von Profitgier, Ausbeutung und Betrug bestimmt. Auch die Bildung ist zu einem Training verkommen, zur Herrichtung von Funktionalisten, die kurzfristig Aufgaben des Systems möglichst problemlos ‘erledigen’ können sollen. Es ist, als ob ein extremes Nutzendenken, gefordert und gefördert von der Wirtschaft, das Denken bestimmt.

Das hat auch mit einem gezielten Wandel des Wissens- und Bildungsbegriffs zu tun. Schon lange geht es nicht mehr um Bildung im früheren, aufgeklärten, emanzipatorisch verstandenen Sinn, sondern um Vermittlung von Fertigkeiten, speziellen Kenntnissen, die im Hier und Jetzt sofort Früchte tragen sollen. Um Funktionalismus eben. Persönlichkeitsbildung, breites und tiefes Wissen als Grundlage einer (sich bildenden) Persönlichkeit sind obsolet, luxeriös geworden.

Viele Experten, Pädagogen, Wissensvermittler meinen, es reiche gezieltes Training für bestimmte Ausbildungen. Aber Ausbildung ist nicht Bildung.

Die hohen Sozialkosten für nachträgliche Hilfen, Assistenzen, Aufbau- und Förderkurse schaffen nur Arbeitsplätze für Ausbildner, Betreuer, Coaches, Psychologen usw. Es ist, als ob die Betreuungsgesellschaft sich das große Feld von Klienten, den dauerhaft zu Betreuenden, herrichtet, und ihren Arbeitserfolg quantitativ durch kurzfristige Erfolge ihrer ‘Maßnahmen’ beweist. In einer Art Gleichausrichtung wird eine neue Art von Bedürftigen erzeugt, die man formt und im Dauerprogramm der Weiter- und Fortbildung des falsch verstandenen Programms von ‘lebenslangem Lernen’ an der kurzen Leine hält.

Was früher die empörte Kritik an ideologisch bedingter Dressur, die man vor allem im kommunistischen Osten sah, speiste, ist heute allgemein akzeptierter Alltag bei uns geworden. Nur nicht kommunistisch, sondern kapitalistisch bzw., in einer befremdlichen Pseudotoleranz, multikulturell und religiös. Was sich offen gibt, ist aber im Grunde eine neue Unverbindlichkeit, die die ideologische Ausrichtung auf Nichtbildung bzw. Halbbildung verdeckt.

Im Kern äußert sich darin auch eine tiefer Antiintellektualismus, den die Aufklärung früher zu überwinden gesucht hat. Aber die Aufklärung selbst wurde versandet, und die tiefe Abneigung gegen Wissen und Bildung hat Oberhand gewonnen.

Es macht sich ein extremer Widerspruch deutlich. Einerseits fordert man, politisch bedingt, in der Erfüllung gewisser, oberflächlich verantwortlich aussehender Programme, ein historisches Wissen, um die Devise ‘Niemals vergessen’ Realität werden lassen. Andererseits verhindert die Ausbildung die Bildung, welche verantwortliche, emanzipatorisch fundierte Persönlichkeiten erzöge. Denn Wissen und seine Bildung, Tradition und die Kenntnis der Vergangenheit, werden generell als überflüssig, als Ballast gesehen. Nur ausgewählte Brocken, die dem gegenwärtigen PC-Programm förderlich sind, werden herausgepickt und gepredigt.

Doch Wissen braucht, wie Historie, mehr als die Kenntnis des Gegenwärtigen. Ohne Wissen um die Vergangenheit, nicht nur im eigentlich Historischen, auch im Bildungsgut, nicht zuletzt der Sprache selbst, können sich keine Grundlagen, keine Fundamente bilden, auf denen man aufbauen kann, in und mit denen man reift, um dann die vielfältigen, komplexen Anforderungen einer sich rasch wandelnden Gesellschaft verantwortlich erfüllen zu können.

Während viele die miserablen Schulungsergebnisse (PISA) der Jugendlichen beklagen, den erschreckend niedrigen Kenntnisstand weiter Teile der Bevölkerung besorgt feststellen, werden just alle möglichen Bildungsmaßnahmen verhindert bzw. abgebaut. Die neuen Programme sind gegenwartsversessen, als ob es der Traditionen, der Vergangenheit(en) nicht bedürfe.

Würden die Schlüsselbegriffe von Bildung und Wissen hinaus über den engen Horizont von Funktionalwissen, wie es das unselige knowledge management bestimmt, bedacht, hätten wir eine Chance. So aber regiert eine Kurzsichtigkeit, die sich anscheinend bezahlt macht. Deshalb ist die heutige Debatte um die Bildungsreform eine Täuschung oder Lüge.

Dabei geht es nicht um Faktenwissen. Dieses hat noch nie Bildung ausgemacht. Mit Faktenwissen alleine würde sich auch kein historisches Verständnis erreichen lassen. Kein gesellschaftliches, soziales, politisches, wissenschaftliches. Und kein kulturelles. Bildung ist die Verbindung von beidem: Kenntnissen und Fähigkeiten, das Vermögen, aufgrund erworbener breiter und tiefer Kenntnisse sinnhaft und verantwortlich, eingebettet in einen Werterahmen, in ein System, das selbst als veränderlich verstanden wird.

Nur so kann Bildung einerseits die Persönlichkeit auszeichnen, andererseits die Grund- und Ausgangslage sein für Entwicklung, Anpassung (im positiven Sinne!), aber auch Kritik und Veränderung.

Unsere Gegenwärtigen Programme verfolgen nicht nur die falsche Richtung. Sie sind schon vom Grundverständnis falsch und fatal, weil sie Wissen und Verbindlichkeit als überwunden verstehen, da sich doch alles so rasch verändert, dass man nur noch die gegenwärtigen Probleme lösen will, sich nicht mehr aufhält mit dem Ballast, dem Unnützen. Aber alles Training wird nicht helfen, wenn die so gezüchteten Kurzdenker ohne Fundament, ohne Grundlagen, ohne weitverzweigtes Wissen nur spezielle Techniken und Fertigkeiten erwerben, die sie eben ‘spezialisieren’.

‘We don’t need no education’ hieß einmal der Protest. Der stimmte in gewisser Weise, solange er sich gegen eine gewisse education wandte. Aber die Devise wird falsch, wenn sie allgemein verstanden wird. We need education, mehr als je zuvor.