Traduction

/ Haimo L. Handl

Ich kann mich erinnern, dass in meiner Jugendzeit ein Mitschüler meinte, St. Christophorus sei der Schutzheilige der Übersetzer. Wir haben sogar eine Ortschaft mit dem Namen des Heiligen im Land, und seine Geschichte hat uns alle seit den frühen Kindertagen berührt: Christoph schultert das Jesukind und übersetzt den Fluss, bringt es sicher ans andere Ufer. Er lag also nicht ganz falsch, hatte nur das Bild des Übersetzers zu direkt genommen. Als Schutzheiliger gilt, für Christen zumindest, Hieronymus.

Wie wichtig, auch ohne jeden Heiligen, das Übersetzungswerk ist, wissen heute nicht nur Hochalpinisten und survival camp Abenteurer, sondern einfache Bürger, wenn sie von den immensen Personal- und Zeitaufwänden, sowie Tonnen von Papier lesen, die die Übersetzungsmaschinerie der EU sich leistet, um die Kommunikation innerhalb der babylonischen Union zu gewährleisten: Eines muss ins Andere übersetzt, übertragen werden … Trotz Dominanz der globalen lingua franca, des Englischen, bedarf es immer noch der Übersetzungen, auch im Wissenschaftsbereich, weil immer noch Muttersprachen verwendet werden, weil sich viele dem ökonomischen Diktat doch nicht so beugen, wie es die Wissenschaft und die Wirtschaft wollen.

Im Bereich der Bildung und Kultur, der Literatur, fällt den meisten gar nicht auf, dass sie Übersetzungen lesen. Und wenn sie es wissen, sind sie meist nicht in der Lage zu beurteilen, wie gut diese ist. Sie wird einfach hingenommen. Nur ein kleiner Teil des Lesepublikums stellt Ansprüche und ist in der Lage zu vergleichen und zu bewerten.

Kleinere Sprachfamilien übersetzen eher und mehr als ganz große. Die USA, aber auch Großbritannien, leisten sich den negativen Luxus einer gewissen Borniertheit: sie übersetzen wenig, weil der Markt fast alles in Englisch liefert, weil jeder sich nach der Weltsprache richtet. Wer nicht in Englisch publiziert, hat am Markt keine Chancen. In der Wissenschaft gilt nicht nur die Qualität, sondern immer mehr die sprachliche Zugänglichkeit über das Englische.

Und die vielen anderen sind sehr gelehrig und sehr brav. Sie übersetzen dauernd aus dem Englischen und ins Englische, um ja den Anschluss nicht zu verpassen. Viele wollen schon die eigene Sprache gar nicht mehr gebrauchen und veröffentlichen ihre Forschungsarbeiten gleich auf Englisch, nur, um die Chancen zu erhöhen.

Aber davon soll jetzt nicht die Rede sein. Auch nicht davon, dass viele, obwohl ihnen das Denglisch zur Alltagsübung wurde, nicht in der Lage sind, auf englisch verfasste Texte komlexerer Art, vielleicht auch Literatur, im Original zu lesen und zu verstehen. Jenseits der Power-Point-Lectures scheint das Jargonenglisch nicht viel zu leisten. Aber jene, die ein höheres Englisch pflegen, um weiter bei der Globalsprache zu bleiben, bemerken mit Unbehagen, wie IHR Englisch in Großbritannien oder den USA von den vielen Formen des Englischen, ganz zu schweigen vom Globalenglisch, beeinflusst wird, wie Muttersprachler im Englischen an Sprachkompetenz verlieren bzw. die Jungen sie nicht mehr gewinnen im Vergleich zu früher. Das schafft gerade wegen der Funktion als lingua franca ein eigenes Problem.

Alle, die mit Übersetzungen zu tun haben, wissen, dass eine Übersetzung oder Übertragung nur ein Behelf ist, das Original nicht gleichwertig ersetzt. Es ist eine Annäherung. Immerhin. Nichts ist unübersetzbar. Allerdings gibt es höchst verschiedene Qualitäten von Übersetzungen, nicht zuletzt wegen ideologischer, religiöser, kultureller oder historischer Bedingungen und Befangenheiten. Vergleiche helfen da – und Auseinandersetzungen, Debatten, Diskurse. Gerade diese gehen am breiten Publikum vorbei.

Eine interessante Frage ist, ob die Übersetzung den Text dem heutigen Leser in seiner gegenwärtigen Sprache übermitteln, übertragen soll, oder ob sie sich möglichst nahe am Original orientieren soll. Welche Übersetzung von Shakespeare ist ‘richtig’ oder besser? In welchem Sinne, weshalb? Wir merken, dass, anders als in der Wissenschaft, in der Literatur andere Maße gelten. Das Form-Inhalt-Problem macht sich unübersehbar geltend. Würde ein heutiger Leser eine Übersetzung der ‘Göttlichen Komödie’ von Dante in einem Deutsch, das versucht, der Vorlage nahe zu kommen, überhaupt lesen können? Würde er wollen? Nein. Denn auch das Original ist auch für Italienischsprachige schwierig, und ohne Kommentare und Erläuterungen nicht mehr zugänglich. Die alte Sprache verlangt besondere Kenntnisse, eine intensive Beschäftigung. Vom Übersetzer wird erwartet, dass er so überträgt, dass wir mit dem heutigen Sprachverständnis Zugang finden und verstehen.

Wenn wir die Übertragungen z. B. von Friedrich Falkenhausen (1937) oder Karl Vossler (1942) vergleichen mit neueren, was fällt auf? Wie gültig sind die Prosafassungen der Übersetzungen von Hans Georg Hees (1995), Hartmut Köhler (2010-2012) oder Kurt Flasch (2011)? Und wie sieht es mit dem extremen Gegenteil der Übersetzung von Rudolf Borchardt (1923-1930) aus? Letzterer hat sich den ‘Luxus’ geleistet, für die ‘Commedia’ eine deutsche Sprache zu erfinden, von der er meinte, sie nähere sich adäquat and die Vorlage an, entspräche einem Sprachverständnis des 15. Jahrhundert. Zwischen den Übersetzungen liegt nicht nur Historie, es liegen Welten dazwischen.

Während für den Muttersprachler der Text als Original gleich bleibt, unverändert, und eine immense eigene Lektüre als eigene, innere Übersetzung verlangt, wird dem Leser von Übersetzungen diese Arbeit abgenommen. Er kann wählen zwischen extremer Orientierung am Original bis hin zu freien Übertragungen ins heutige Deutsch, sogar unter eklatanter Formverletzung, wenn nicht mehr in Versform, sondern in Prosa geschrieben wird. Worum geht es? Um den Inhalt, den ‘Geist’ des Werkes? Wie erfasst ihn ein Muttersprachler?

Bei den Klassikern der deutschsprachigen Literatur regt sich immer mehr Desinteresse and Aversion. Aber jene, die lesen, haben, so sie denn des Lesens kundig sind, keine nennenswerten Probleme. Aber sobald wir etwas zurückgehen, ältere Texte in älterem Deutsch lesen oder zu lesen versuchen, wird es problematisch. Mittel- oder Althochdeutsch sind nur noch Spezialisten zugänglich. Für gewöhnlich bedürfen wir der Übertragungen als Übersetzungen.

Ein kleines Beispiel aus der reichhaltigen Literatur der Minnegesänge. Verstehen Sie diese Strophe?

Daz er bî mir læge, wessez ieman (nu enwelle got!), sô schamt ich mich. Wes er it mir pflæge, niemer niemen bevinde daz, wan er und ich und ein kleinez vogellîn, tandaradei, daz mac wol getrúwe sîn.

Es ist die vierte und letzte aus ‘Unter der Linde’ von Walter von der Vogelweide (1170-1230). Für Alemannen, die des Dialekts noch mächtig sind, eher lesbar als für Bajuwaren oder andere. Aber man wird ein Wörterbruch konsultieren müssen. Ein ganzes Buch in dieser Sprache wird niemand lesen, sondern eine Übertragung wählen. Eine interlineare Übersetzung bietet Helmut Brackert (1983):

Daß er bei mir gelegen hat, wenn es jemand wüßte, (das verhüte Gott!), so schämte ich mich. Was er mit mir tat, niemand jemals möge das erfahren als er und ich und ein kleines Vögelein, tandaradei, das wird wohl verschwiegen sein.

Diese Übersetzung geht nicht auf die dichterische Form ein, sondern versucht, möglichst wortgetreu zu übertragen. Anders die Nachdichtung, die eine literarische Entsprechung zu bieten versucht; hier eine von Bruno Obermann (1886):

Daß er mich herzte, Wüßt’ es einer, Behüte Gott, wie schämt’ ich mich! Wie er da scherzte, Keiner, keiner Erfahre das, als er und ich Und ein kleines Vögelein, Tandaradei! Das mag wohl verschwiegen sein.

Und wie wär’s, wenn Sie ein Buch in dieser deutschen Sprache lesen wollten, wo Sätze klingen wie ‘Nû sprechent eltiche liute: ir sagent uns schoene rede unde wir werden des niht gewar.’ (Aus der 74. Predigt des Meister Eckart (1260-1328), publiziert 1857). Ein paar solche Sätze mögen noch hingenommen werden, ein Buch von fast 700 Seiten wird zur Qual, wenn man nicht Spezialist ist. Also greift man zur Übertragung.

Auch aus der eigenen Sprache muss ab einer gewissen Veränderung also übertragen werden. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass die Texte der Klassiker, die für uns noch lesbar sind, dem nächsten Publikum nur noch in Übersetzungen verständlich sein werden, falls sie überhaupt noch Interesse erregen.

Ähnlich wie im Theater ‘kühne’ Regisseure oft vergewaltigend und fleddernd umdeuten in ihren modernen Versionen, wird auch das literarische Original unzugänglich werden, wird die Mehrheit sich der neuen Übersetzungen – und damit Deutungen – bedienen. Das ist jedoch nicht nur ein Sprachproblem!

Wir leben heute in paradoxen Zuständen. Einerseits wird Eigenheit betont und Interkulturalität beschworen. Andererseits wächst das Regime der Angleichung, Gleichmachung, ja sogar Gleichschaltung, Globalisierung. Mit dem Absterben vieler Sprachen gehen Welten verloren. Nicht, dass man sie künstlich, museal bewahren sollte. Das funktioniert nicht. Aber der Prozess macht nicht vor den exotischen oder regionalen Kleinsprachen halt, er betrifft auch die Welt- und Mehrheitssprachen, er betrifft die Eigenheiten vieler. Übersetzungen können, vielleicht unfreiwillig und nicht intendiert, zur Schwächung der Eigenheiten beitragen, ähnlich der Dominanz einer globalen lingua franca. Es wird zum Luxus für Wenige werden, sich außerhalb dieser Globalterritorien aufhalten und umtun zu wollen.