Gaucks Europarede

/ Haimo L. Handl

Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck, Jahrgang 1940, hat in seiner kürzlichen Europarede gleich mehrmals verblüfft und überrascht. Er stellte den Europaskeptikern, Zweiflern, Jammerern und Zauderern das positive Bild Europas gegenüber, besprach die vielfältigen Facetten der Identitätsproblematik, beschwor das breite Friedensprojekt und reflektierte und beleuchtete auch die profanenen Aspekte des gemeinsamen Marktes und der außenpolitischen Positionen in einer sich global wandelnden Welt.

Als Deutscher wurde er nicht müde, die Position seines Landes herunterzuspielen, voll integriert als europäisch zu zeichnen, um ja nur nicht kleinste Irritationen zu nähren, die nun mal wegen Deutschlands Stärke, die nicht wegzureden ist, existieren und eifersüchtig, revanchistisch unterhalten werden. Er folgt damit einer Linie, die seit der großen Niederlage als Folge des barbarischen Holocausts und Zweiten Weltkriegs, vorgegeben ist: Deutschland als Sonderfall mit Sonderverantwortung. Der ehemalige Paria darf nicht ‘normal’ werden, er muss ewig an kurzer Leine unter Kontrolle gehalten werden, muss zahlen, kuschen und darf nie wieder stark werden.

Aber die Deutschen wurden stark. Sie kuschen allerdings, sind brav, wollen es allen Recht machen und nicht auffallen, außer in den wirtschaftlichen Bereichen, wo sie nun doch nicht automatisch nur den äußeren Vorgaben folgen, obwohl sie immer noch viel zahlen.

Das sogenannte Friedensprojekt Europäische Union, das als Wirtschaftsgemeinschaft ausgerichtet war und sich langsam zu einer politischen Union hin entwickelt, ist von einer solchen weit entfernt. Je näher das mögliche Ziel einer politischen Union rückt, desto stärker werden die Abwehrkräfte. In und mit der Krise müssen wir auch erleben, wie alte Ressentiments ausgegraben werden, wie im Dienste chauvinistischer Nationalpolitiken alte Feindbilder reaktiviert werden. Deutschland ist zu stark. Deutschland ist zu gefährlich. Deutschland hat nicht genug bezahlt für den letzten Krieg. Deutschland soll noch mehr zahlen. Deutschland will die Führung, alles soll nach Deutscher Pfeife tanzen.

Es sind nicht nur die neuen Ostländer, die chauvinistisch, uneuropäisch im Kern, wenig demokratisch, sich verhalten. Es sind sogenannte ‘Kernländer2 wie Italien oder Großbritannien, die antieuropäisch operieren. Italien, durch und durch korrupt, bankrott, mafiotisch, stark faschistisch geprägt und infiziiert, schürt über seinen Führer Berlusconi die Antideutschenkampagne.

Großbritannien stellt klar, dass es nie eine politische Union wollte und sich überlegt auszusteigen, weil der Verbleib in der jetzigen Union dem Land zu wenig bringe. Denn Dabeisein gilt nur so lange, als es den Briten etwas bringt.

Der deutsche Bundespräsident sieht das gänzlich anders. Er bittet überaus freundlich die Briten, doch unbedingt die Union mit ihrer alten demokratischen Tradition, mit ihrem Wissen und Können, ihrer Macht, zu unterstützen. Er zeichnet das Bild eines Britanniens, wie es den Geschundenen während des Zweiten Weltkriegs leuchtete: die Bastion der Freiheit, des Rechtsstaates. Eine Chimäre.

Nicht bleibt ewig. Dankenswerterweise sind Änderungen möglich. Wäre das Gegenteil der Fall, müssten wir Kooperationen sistieren, die Verträge mit Staaten auflösen und im alten Krieg und Kampf unsere Positionen stählen. So, wie Deutschland nicht mehr Hitlerdeutschland ist, Frankreich nicht napoleonisch, ist aber auch Großbritannien nicht mehr jene Demokratie, von der die Opfer der Naziherrschaft träumten.

Aber auch wenn sie noch demokratischer wären, als sie sind, müsste gefragt und geprüft werden, auf wessen Kosten. Diese Arierkultur, die bis zum Zweiten Weltkrieg in einer hässlichen, inhumanen, bösen Kolonialpolitik mehr als die halbe Welt ausgebeutet, ausgequetscht hatte, Kriege en masse führte zu seiner Bereicherung, hat sich keiner den Deutschen vergleichbaren ‘Vergangenheitsbewältigung’ gestellt. Und vor allem, proportional nicht vergleichbar gezahlt. Die Grenzziehungen aufgrund seiner Diktate sind die Ausgangsbedingungen vieler Kriege heute, die nicht Großbritannien bezahlt, sondern viele andere Länder berappen.

Natürlich stehen die Briten nicht alleine da. Europa hat mehr zu bieten. Immerhin ging von Europa der Kolonialismus aus, der zum stärksten wurde, auch wenn man z. B. Dschingis Khan und Attila einrechnet. Die Portugiesen und Spanier, die Niederländer und Franzosen unterwarfen, neben den Briten, weite Teile der Welt. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als Britannien aufgrund des Krieges und seiner Misere des Verlustes vieler reicher Kolonien schier bankrott war, da wandelte es sich zum Steigbügelhalter des neuen Herrn, der Amerikaner. Die Resultate seiner schnöden Politik sind heute noch spürbar (Nahost, Irak, Indien, Südostasien, Afrika, Lateinamerika).

Da erstaunt also die bemühte Freundlichkeit des Herrn von Schloss Bellevue gegenüber den Briten doch. Dürfen wir von den Deutschen kein aufrechtes Wort mehr erwarten? Hat die Umerziehung zu tief gegriffen? Erlauben sie sich den aufrechten Gang nur noch in theoretischer Philosophie und Kunst?

Ein gesundes Europa, ein friedfertiges, offenes, lässt sich nicht erkaufen. Es lässt sich nur gemeinsam erarbeiten.