Die europäische Krankheit

/ Haimo L. Handl

Die europäische Krankheit scheint eine zum Tode zu werden. Es handelt sich dabei weder um die vielbesprochene und beklagte Eurokrise, das Bankenunwesen, die teuren Korruptionen in allen Mitgliedsstaaten, besonders den südlichen. Auch nicht die militärischen Abenteuer der Union oder ihre verfahrene, verhinderte Außenpolitik. Es sind auch nicht äußere Feinde. Der Feind existiert innen, innerhalb der Union. Die Krankheit ist der wachsende Ungeist von Nationalismus und Chauvinismus, der die Union fatal schwächt und alle beschworenen Prinzipien und Ziele seit der Gründungszeit ad absurdum führt. Diese tödliche Krankheit, die wie ein extrem starkes und gefährliches Virus das Organ Europa infiziert hat und schwächt, scheint wie ein übles Krebsgeschwür zu wuchern.

Die jüngsten Beispiel sind nicht nur in den südlichen Ländern mit enormer Korruption zu finden, wo das Sündenbockschlagen zur direkten Ablenkung eigenen Versagens direkt beiträgt, wie zuletzt der strafrechtlich verurteilte, aber munter weitermachende Berlusconi, der kürzlich wieder den Bösen aus dem Sack zieht wie ein frecher, siegreicher Kasperl. Und der Böse ist Deutschland, das auf ewig schuldig bleiben muss, und das zahlen soll. Ganz gleich, wie die Rechnung aussieht.

Diesem Unbelehrbaren, der auch öffentlich, um einige Stimmen mehr von den zahlreichen Faschisten in Italien einzuheimsen, die guten Seiten des Duce, des unvergesslichen Mussolini lobt, wird vielleicht wieder eine Mehrheit zustimmen, wie sie als entpolitisierte, mehrheitlich eigentlich dumme Wählerschaft schon öfters bewiesen hat.

Die Aushebelungen dessen, was Rechtsstaaten nach westlichen, europäischen Maßstäben auszeichnet, beweisen in den jungen Mitgliedsstaaten Ungarn, Rumänien und auch Bulgarien, dass der alte Ungeist undemokratischer Regime ganz tief verankert und eingraviert ist, so dass es auch bei positiven Bemühungen noch lange dauerte, bis annehmbare Standards erreicht sein würden. Den aktuellen Trends folgend ist Schlimmstes zu befürchten, alles unter dem Mantel der tödlich erkrankten Union, die die europäische Krankheit tabuisiert und wegzureden, gesundzubeten versucht, was natürlich nicht funktioniert.

Aber es war kein Möchtegerndiktator aus dem Osten oder Süden, der die höchste Aufregung erzeugte, sondern der Regierungschef einer alten, ehrwürdigen Demokratie, die zwar von Anbeginn gewisse Reservierungen gegenüber Europa, eine Ablehnung einer politischen Union zeigte, aber trotzdem irgendwie als Mitgliedsstaat mitmachte. Großbritannien, das von Europa als Ausland, dem Kontinent spricht, das auf seine Insularität als Einzigartigkeit pocht, und dessen nationalen Sonderstatus David Cameron wieder einmal hervorhob: First Britain! Europa dann nur soweit, als es den britischen Interessen dient.

Großbritannien, seit je im arischen Geist der Weltbeherrscher, des Herrenvolkes, musste, eher übel als wohl, die geänderten Realitäten nach dem 2. Weltkrieg schmerzlich zur Kenntnis nehmen. Aber der pragmatischen Politik folgte kein Mentalitätswandel. Die Briten fühlen sich immer noch als die Herren, die Arier, die sich mit den Gemeinen auf dem Kontinent nur soweit einlassen und assoziieren, als es ihnen dient, ihren Interessen, ihrer City, die sie als bedeutenden Finanzplatz mit allen Mitteln verteidigen, auch auf Kosten von Europa, das ja draußen, jenseits des Kanals, des Grabens liegt.

Zwar warnen realistische Geschäftsleute und einige unerschrockene Politiker, die sich dem Druck der Hinterbänkler und der von ihnen vertretenen Plebs nicht gleich beugen, doch der Schachzug des Premiers, die Mitgliedschaft in der Union in einem Referendum zur Abstimmung zu bringen, spricht eine deutliche Sprache. Es könnte sein, dass die anderen Unionsländer den Briten wieder mit Spezialzugeständnissen zu Hilfe kommen, die Ungleichheit zementieren und belohnen, auch wenn sie dann daheim ihren Elektoraten nicht vernünftig klarmachen könnten, weshalb das unterstützenswert gewesen sein soll.

Nicht, dass Cameron nicht berechtigte Kritik anbrachte. Keine Frage. Aber sein Kalkül, die eigentlichen Beweggründe, sind unlauter und europafeindlich. Er beweist den Ungeist von Chauvinismus und irrationalem Nationalismus und stärkt damit die europäische Krankheit, die in den Ostländern in eigener Ausformung grassiert. Zwar ist der europafeindliche Klaus bald weg und von einem freundlicheren Politiker abgelöst, aber nicht nur in Tschechien lauert und schwelt ein antieuropäisches Denken. Das „neue Europa“, das vor gar nicht so langer Zeit ein US-Politiker höhnisch meinte gegen das alte ausspielen zu können, schwächelt und bröckelt in dem Maße, wie es auf die nationale Karte setzt.

Dieses kranke Organ Europa, das sich ein Parlament hält ohne die legislative Macht, die einem echten Parlament zukommen müsste, das neben der bestimmenden Kommission einen demokratisch nicht kontrollierten Rat hat, dieser kranke Organismus wird zerfallen, zerbröseln, zusammenbrechen, wenn nicht sofort konkrete Gesundungsmaßnahmen erfolgen, wenn kein Besinnen auf Europa einsetzt. Kurz, wenn die Nationalismen und scheußlichen Chauvinismen ungebremst weiter wuchern. Da wird auch kein Ablenken helfen, wie es vorderhand verzweifelt erfolgt. Das einstige Friedenswerk, das Wagnis, ein Europa über die engen, bornierten Nationalgrenzen hinweg zu bilden, ist letal verletzt und droht draufzugehen. Trotz Friedensnobelpreis.