Frost

/ Haimo L. Handl

In Zeiten der intensiven Erderwärmung wird es immer schwerer, Frost und extreme Kälte sich vorzustellen. Zu kurz sind die Winter – und Sibirien ist weit weg. Andererseits werden von Radio und Fernsehen bewusst die Wahrnehmungsschwellen verschoben. Temperaturen um die 0 Grad werden als extrem winterlich gesehen, dem Publikum werden dauernd Extrembedingungen vorgesprochen und eingeredet.

Wahrscheinlich übersteigt es das Vorstellungsvermögen der verwöhnten, abgerichteten Konsummenschen, sich wirklich extreme Kälte vorzustellen. Der Frost, vor dem man im Wetterdienst warnt, hat keinen Schrecken hier, und woanders wird er durch das perverse, verharmlosende Umkehrbild des ‘Väterchens Frost’ gebannt.

Die Verharmlosung und Umkehrung ist ja eine wichtige Funktion von Märchen, um den Realitätsdruck aushalten zu können. Es scheint, wir erleben gegenwärtig eine Renaissance neuer Märchen, nicht nach der alten Art, sondern modern verpackt, in der Funktion aber gleich. Für jemandes Entlastung und Minderung von Angst waren und sind Märchen tauglich. Für ein Verschieben tief eingegrabener Wünsche bieten sie eine Folie, eine Projektionsfläche, weil die Realität alles andere ist als wunscherfüllend. Aber die Ausflüge in die Irrealität, in die Traumwelten, in die Sphären der Imagination bieten auch ein Feld der Rache: es mordet sich leichter in Träumen und Gedanken, ja, das ‘Verarbeiten’ im Traum, das Abreagieren in den Fantasiewelten, mag auch ein Anvisieren oder Vollzug konkreter, realer Gewalttaten verhindern.

Diese Funktion der Furchtminderung und Entlastung als auch der fantastischen Ersatzhandlungen war und ist vor allem für Heranwachsende, für Kinder, die im Gewaltprozess der Sozialisierung ‘normal’, reif werden müssen, äußerst wichtig. Aber Alltagsmärchen für die Tagträume sind auch den Erwachsenen nicht fremd.

Eigentümlich ist, wie Religionen, die die ersten Märchen überhaupt darstellen und vermitteln, nicht auf Angstminderung ausgerichtet sind, nicht auf Substituierung der bösen Tat, der schlimmen Rache usw., sondern, im Gegenteil, die Furcht steigern, den Hass nähren, die Verschiebung aufs Jenseits abheben von der Konditionierung der konkreten bösen Tat, die allerdings in eine ‘gute’ und ‘gottgefällige’ konvertiert wird.

Einige Märchen dieser Religiösen legitimieren Mord und Terror. Weil die westliche Welt nicht mehr differenziert, eigene Werte nicht ernst nimmt, hilft das peinliche Schutzdenken den Religionen, und somit auch dem Bösen, wenn gewisse Religiöse ihre Morde, Hinrichtungen, Vernichtungen als religiös und im Auftrag ihrer alten Schriften hinstellen. Beschneidung von Buben und Mädchen? Freie Religionsausübung! Steinigung von Ehebrecherinnen? Im Koran vorgeschrieben. Ebenso der tödliche Kampf gegen verächtliche Ungläubige! Zensur? Klar doch, göttlicher Auftrag.

Die profanen Märchen mussten immer konkurrieren und hatten so lange ‘Saison’, als sie ‘funktionierten’. Vielen religiösen Bilder und Mythen erging es ähnlich. Sobald die reale Macht zur Durchsetzung der Deutungshoheit weg war, konnte der religiöse Mythos in ganz anderer Qualität verstanden werden. Das ändert sich derzeit wieder, weil im Westen Dusler den Intoleranten den Weg ebnen, so dass es bald nicht mehr statthaft sein wird, andere Märchen zu wollen oder nicht hinhören zu wollen, weil es offiziell ja nicht um Märchen geht, sondern das Wort Gottes.

Das Dauertraining durch Bewertungsverschiebungen, wie vorher angedeutet mit den Wetterdiensten, aber auch generell, welche Ereignisse als extrem, außerordentlich, gigantisch usw. bezeichnet werden, bzw. welche verniedlicht werden (Fukushima, Bankenabzockerei), leistet eine wichtige Unterstützung zur Orientierungslosigkeit und Verwirrung. Wenn Größenordnungen über Dauer verschwimmen, sich unsystematisch verändern, ergeht es einem bald wie Alice im Wunderland, und man wünscht nur noch, aus diesen Träumen aufzuwachen.

Zurück zum Frost. Der Begriff ist bei uns stark negativ konnotiert. Jetzt, da wir erleben was folgt, wenn in höheren Regionen der Frost fehlt, keine Kälte die Gletscher hält, das fehlende Eis die Gebirgsmassen rissig und brüchig macht, was folgt, wenn in der Arktis die Eisberge brechen und gigantische Mengen von Schmelzwasser den Meeresspiegel ansteigen lassen, welche Einflüsse das auf Fauna und Flora hat, da kollidieren die althergebrachte Werte des Wortes ‘Frost’ mit den positiven, die wir heute eher erkennen, die es nie transportiert hat, die aber nicht hätten vergessen werden dürfen.

Für mich ein Beispiel, wie schon über die Sprache bestimmte Vorstellungs- und Denkfelder zwar nicht verhindert, aber behindert und gesteuert werden können, durch lange, lange Übung von Wertzuschreibungen. Auch am Gegenpol das gleiche Phänomen: Wir kennen das Problem mit der Sonne bei uns und dem Sonnenanbeten, dessen Kult heute nur noch mit intensiven Schutzmitteln möglich ist.

Frost? Ist halt doch kein Väterchen, so, wie die Sonne keine Mutter ist. (Dass in vielen Sprachen das ‘Geschlechtsverhältnis’ der Gestirne Sonne und Mond umgekehrt wie im Deutschen ist, nämlich der Sonne und die Mond, gibt einem auch zu denken. Wäre auch ein Hinweis für die fleißige gender politics feministischer Märchenerzählerinnen …)