Schockstarre

/ Haimo L. Handl

Ganz Amerika befindet sich im Schock und ist in Trauer. Man kann sich an die immer wiederkehrenden Amokläufe, die Massentötungen nicht gewöhnen. Sie gleichen sich zwar mehr oder weniger, auch die Trauerrituale. Aber sie bohren sich stets aufs Neue tief in die Menschen, nicht nur die Angehörigen. Der Schmerz ist echt und braucht erst gar nicht telegen inszeniert zu werden.

Aber alles geht seinen Gang, das Leben geht weiter, wie man so sagt. Das dürfe nicht mehr geschehen, hatte man gefordert und wird es wieder fordern. Aber es geschieht. Es ist rational unerklärlich, und dies fügt dem Schmerz eine Dimension hinzu. ‘Schoss wahllos’, heißt es, als ob das Gegenteil, das gezielte Töten, wie es zur Kriegsführung einiger Länder gehört, erträglicher wäre. ‘Unschuldige Opfer’, als ob ‘schuldige’ hinnehmbar wären oder weniger zu betrauern.

Die Ereignisse, wie sie nun schon fast im vierteljährlichen Intervall die USA erschüttern, zeigen auf, dass direkter oder naher Bezug eine tiefe Betroffenheit erzeugen können, von der man wünschte, sie wäre nicht nur für die Eigenen, die Nahen, reserviert.

Ich stelle mir das Bild vor, wenn ein ähnlicher Schmerz, eine vergleichbare Betroffenheit nach Kriegsgräueln sich einstellte: 28 Menschen durch von den USA finanzierte Rebellen in Syrien hingemetzelt. Findet nur marginal Eingang in die Meldungen. Beschuss von Wohnvierteln durch die Regierungstruppen wird dagegen dramatisch geschildert. Jagden und Hinrichtungen von Angehörigen des Regimes durch westlich finanzierten Rebellen, gesetzlos, barbarisch, sogar unter Mitwirkung von Kindern (ob erzwungen oder nicht), gefilmt und im Netz nachsehbar, führt zu Bezweiflungen und Schulterzucken.

Wäre nur ein Funke des Zorn von der wütenden Trauer über ‘eigene’, nahe Ereignisse hinüber rettbar auf das Entfernte, der Krieg hätte weniger Chancen, die Kriegsverbrechen gingen nicht so leicht vonstatten.

Die Tausenden von Toten durch Kriege der USA und ihrer Verbündeten ‘wirken’ nicht, bleiben abstrakt, sind Nummern in den Menschenmaterialrechnungen. Vielleicht manchmal Kostenfaktoren.

Nach der Niederringung des Naziregimes fragten besorgte Sozialpsychologen und Psychiater, wie die Mehrheit der Deutschen wegsehen und mitmachen konnte. Immer wieder erhalten wir heute, jetzt, die aktuelle Antwort. Sie wird aber nicht aufgegriffen, nicht gefühlt und bedacht. Sie bleibt abstrakt, entfernt, entfremdet versachlicht, verdinglicht. Im Gegenteil: Um der Gefahr einer Schockstarre zu entgehen, entwickeln die USA ihre modernen Waffen weiter, um ‘in der Ferne’ mit ihren Maschinen (Drohnen) töten zu können. Und ihre Vasallen und Verbündeten dazu. Alles im Namen der Sicherheit und des Friedens.

Niemand im eigenen Lager schreit auf vor Schmerz und Betroffenheit. Hass treibt an, bündelt die Energien. Aber der Hass ist auch derselbe Boden, auf dem die verengten, bornierten, unmenschlichen Gotteskrieger im Namen ihres Gottes, eines wahren Scheusals, morden. So Gott will. Wann hat ein Gott je nicht gewollt? Zu feig, sich auf sich zu berufen in ihrem dreckigen Morden, muss ein vergewaltigter Gott herhalten. Und die Gläubigen beugen sich, krümmen sich vor Hass hier, vor Schmerz dort. Aber es geht weiter.

Sehen die Trauernden hier und die Trauernden dort nicht die Ähnlichkeiten? Es ist absurd, aber nicht unerklärlich. Es bleibt, auf beiden Seiten, inhuman, bei allem Schmerz.