Regimekritik

/ Haimo L. Handl

Als der chinesische Autor Mo Yan kürzlich den Nobelpreis für Literatur erhielt, erschollen im Westen wie im Osten, besonders auch in China, kritische Stimmen, die ihm ankreiden, dass er ein regimetreuer Bestsellerautor sei. Fast überall wurde primär Politik und Ideologie zum Beurteilungsgegenstand, eine gewisse gutmenschlerische Moral, und vereinzelt auch Bezweiflungen seiner literarischen Qualität.

Das hat System. Im Westen scheint die Ansicht vorzuherrschen, wie über die langen Jahre des Kalten Krieges dressiert, nur ein dissidenter Autor könne ein ‘guter’ sein, wenn er aus dem Osten kommt. Würden dieselben Maßstäbe allerdings an die gefeierten westlichen Autoren angelegt, wer würde bestehen?

Niemals wurde die Frage ernsthaft gestellt, wie es denn um die politische Moral, die ideologische Vernünftigkeit z. B. der US-amerikanischen Autoren steht. Wer von ihnen emigrierte? Auch die sogenannt kritischen bleiben im Land, genießen trotz aller Kritik die Segnungen des kapitalistischen Staates. Bei ihnen scheint die Kritik an Krieg und Ausbeutung vereinbar mit dem Mitmachen und Mitlaufen, dem Kollaborieren. Denn dieses Mitläufertum erscheint nicht als solches, weil man dort ja ‘frei’ seine Meinung äußern darf. Doch wie sieht es aus mit der Kritik? Was für eine Qualität kann dort eine Kritik haben, die NICHTS bewirkt? Um welche Freiheit handelt es sich, die risikolos, wie ein Aufputz, ein schnöder Wegwerfartikel, verbraucht werden kann?

Man mache sich nichts vor. Wäre die literarische Kritik systemgefährdend, würde auch in den USA der Staat eingreifen, wie es denn öfters in seiner Geschichte geschehen ist. Müssten verantwortliche Autoren nicht das Land verlassen, um nicht ein kriegsgeiles Regime durch Dortbleiben zumindest indirekt zu unterstützen? Wie sieht es mit dem Heer von Kulturarbeitern aus, die systematisch die Massenbeeinflussung mit amerikanischen Unwerten durch Stärkung ihrer gigantischen Medienindustrie stützen? Gelten hier fürs Mitmachen, fürs Täter sein, andere Maßstäbe?

Ähnliches gilt für Autoren in Europa. Worin unterscheiden sich denn die korrupten, mafiotischen südeuropäischen Länder von asiatischen, lateinamerikanischen oder afrikanischen? Ach ja, es handele sich um Demokratien, sagt man. Fein. Ist das also der entscheidende Punkt, die Demarkationslinie? Von welcher Demokratie reden wir? Der amerikanischen, jener der EU, wo das Parlament immer noch keine volle legislative Macht hält, wie sie einem demokratischen zustünde?

Was zeichnet Großbritannien, Frankreich oder Deutschland aus gegenüber Indien und China? Dass bei uns die Freiheit der Wortes und der Meinung gilt, außer es handelt sich um vermeintlichen Antisemitismus, den man reflexartig, in brav-dummer Gefolgschaft israelischer Vorgaben, bei fast jeder Israelkritik ausmacht, oder um Schmähungen Mohammeds, die auch bei uns unter Strafe gestellt werden, weil wir ja so menschenfreundlich einen vermeintlichen Gott nach dem Willen der Gläubigen und ihrer Religionsgesellschaften als schutzwürdig hinstellen? Bei uns gebe es keine Zensur, heißt es, außer es gibt sie doch, dann aber aus ‘vernünftigen’ Gründen. Wir akzeptieren in aller Freiheit scharfe Kontrolle des social web, umfassendste Bürgerüberwachung, systematische Verfolgung sogenannter ‘hate speech’ usw.

Wie zeigt sich denn Regimekritik in Europa, wo niemand unsere Regierungen in der EU als ‘Regime’ bezeichnet? Dieses Etikett gilt nur für Feinde, wie derzeit Syrien, oder, wie üblich, China, obwohl mit der zweitgrößten Wirtschaftsmacht Geschäfte gemacht werden, weil Geschäfte nun mal vorgehen. Wer ist da kritisch? Jene, die auf China schimpfen, aber schön brav in ihrem netten Land bleiben, weil man ja nicht auswandern könnte, auch wenn man wollte? (Wohin soll ich mich wenden?!) Aber der Chinese oder Russe muss es können!

Es wäre zum Lachen, wenn’s nicht so trist wäre, verlogen und zurechtgezimmert. Die Deutschen sind überaus tolerant gegenüber Rechtsextremen. Aber auch gegenüber ehemaligen DDR-Tätern, die man nach der Wende unbedingt ‘ins Boot’ hohlen musste/wollte. Warum? War das der Preis für das Gelingen der Vereinigung? Wie kann in so einem Staat Kritik gedeihen? Wie soll man Werten vertrauen, wenn sie einmal so, ein anderes Mal anders gelten, ganz, wie es die ‘Herrschenden’ für nützlich empfinden?