Wahrsagerei, wissenschaftlich

/ Haimo L. Handl

Das bemerkenswerteste Ereignisse in unserer an Krisen sicher nicht armen Zeit stellt das Urteil eines italienischen Gerichts gegen sechs Wissenschaftler und einen Beamten dar, denen vorgeworfen wurde, nicht rechtzeitig korrekt vor dem Erdbeben gewarnt zu haben, das sich 2009 in L’Aquila ereignete und nicht nur Teile der kleinen Provinzhauptstadt der Abruzzen zerstörte, sondern über 300 Menschenleben forderte. Die Verurteilung zu mehrjährigen Haftstrafen führte zu Protesten nicht nur in Italien, sondern auch im Ausland. Insbesondere Wissenschaftsorganisationen zeigten sich empört.

Das Urteil geht weit über den Anlass und Italien hinaus. Auch wenn es in der Berufung zu einer Änderung käme, belegt die Vorgangsweise der italienischen Behörden und der Rechtsspruch einerseits die Problematik der Rechtslage (Verantwortung, Schuld), andererseits der Wissenschaftsauffassung (Rolle der Wissenschaft, der Prognosen, der Sicherheit).

Unabhängig von der persönlichen Verantwortung der in diesem Fall Involvierten ist zu fragen und zu bedenken, wie überhaupt in einer sich modern und aufgeklärt gebenden Gesellschaft derart abergläubische Erwartungen an die Wissenschaft entstehen konnten, so dass Prognosen oder Vermutungen als so sichere Aussagen gewertet werden, deren Nichtbestätigung dann eingeklagt wird.

Die Wissenschaften haben in den meisten modernen Gesellschaften einen quasi religiösen Status erlangt, der von den Un- und Halbgebildeten in der schillernden Expertenkultur kräftig gestärkt und erhöht wird. Einerseits scheint für jede wissenschaftliche Expertise eine gegenteilige zu kaufen zu sein, andererseits führt dies nicht etwa zu Skepsis und Relativierung, sondern nur zum Anheizen eines vernebelten geistigen Klimas, indem diese Art Wissenschaftspolitik und -geschäft zum Politikum wird: Wer das Geld oder die politische Macht hat, hat das Sagen.

Die wissenschaftliche Gemeinschaft, die Universitäten, die Forschungsinstitute, die Firmen als Auftraggeber sowie der Staat als Auftraggeber und Rahmensetzer haben in den letzten Jahrzehnten mit dazu beigetragen, ein ungesundes, unvernünftiges Wissenschaftsklima aufzubauen, in dem die Kernsätze von Wissenschaftlichkeit, wie sie in der Aufklärung bekannt waren, nicht mehr gelten.

Es geht um einige zentrale Ansichten: Generelle Machbarkeit von allem, und damit verbunden, weitgehende, wenn nicht volle Kontrolle, das heißt, Sicherheit.

Ersteres ist potentiell offen, Letzteres gibt es nicht. Es wird aber getan als ob. Hier treffen sich Gebildete, auch Wissenschaftler, mit den Abergläubischen. Der Unterschied zu Religiösen, die hinter allem Übel Teufel sehen und eine Strafe Gottes, ist ganz gering. Der Sicherheitswahn, im Alltagsleben schon so tief verankert, dass er stellenweise paralysierend wirkt bzw. zu immer kostenintensiveren Haftungsstreiten führt, dokumentiert nur den hohen Grad an Infantilisierung, den unsere Gesellschaft inzwischen erreicht hat. In dem Maße, wie in dieser versorgten, betreuten Therapiegesellschaft, deren Handeln vom Opferdenken dominiert und bestimmt wird, die Experten in der Rolle jener, die die Wahrheit kennen und verbürgen, diese Rolle nicht erfüllen, gibt es Probleme. Jetzt nimmt ein italienisches Gericht dazu Stellung und findet, wie im Mittelalter, als Aberglaube die Menschen terrorisierte und sie freudig schaurig geängstigt mitmachten, zu einem perversen, inakzeptablen Urteil.

Aber wir dürfen nicht übersehen, wie ein wichtiger Teil der Wissenschaft selbst zur Pervertierung ihrer Rolle beitrug, und welches Heer an willigen, süchtigen Gläubigen dies unterstützt und lizitiert. Ein Blick auf die Auseinandersetzungen, die ‘Kreuzzüge’ in wichtigen Fragen wie Klima, Erderwärmung, Waldsterben, Gentechnologie und dergleichen zeigt, dass hier kein gleichwertiger wissenschaftlicher Diskurs, keine offene argumentative Debatte läuft, sondern von Ideologien bestimmte Kämpfe abrollen. Die fordern Opfer. Diesmal von Wissenschaftlern. Meistens von anderen.

Es besteht überhaupt kein Grund zur Schadenfreude, falls jemand einen Hass gegen Experten aufgestaut hätte. Die Problematik ist zu ernst, zu tiefgehend, als dass man sich damit abgeben dürfte. Es geht um ein Sicherheitsdenken, um ein Verständnis von Machbarkeit, das auf dem Prüfstand steht. Es geht um Unsicherheit, die den meisten unerträglich scheint, weshalb sie in die Arme der Kirchen und Religionsgemeinschaften laufen, weil sie dort Trost und (vermeintliche) Sicherheit finden.

Über die Jahre hat die Wissenschaft eine solche Kirchenrolle angenommen, treten Experten wie Hohepriester auf. Damit wurde aber wissenschaftliches Denken selbst geschwächt und unterminiert, denn dieses erzeugt immer neue Unsicherheit. Jede Frage produziert, neben all den Antworten, die gefunden werden mögen, weitere Fragen. Prinzipiell erzeugt Offenheit Unsicherheit. Das ändert sich nicht, auch wenn viele mit den Antworten wie mit Sicherheiten umgehen. Wissenschaftliches Denken ist jedem Glauben, der generell Sicherheiten verspricht bzw. die ‘absolute Wahrheit’, diametral gegenübergestellt. Prinzipiell sind die Ergebnisse, auch die anerkannten ‘wahren’, immer einer Prüfung zugänglich und verwerfbar, wenn neue Kenntnisse sie widerlegen. Gläubige sonnen sich demgegenüber gerade darin, dass sich seit je nichts im Wesentlichen ändere. Die meisten, die wohl die Früchte wissenschaftlichen Fortschritts genießen, kneifen und sind, was die ‘letzten’ oder ‘zentralen’ Fragen betrifft, dann doch gläubig, das heißt, auf vermeintliche Sicherheit aus, auf finite Antworten.

Das nicht unterscheiden zu können bzw. zu wollen (nichts erfolgte zufällig!) muss zu einer Malaise führen, die vorderhand im italienischen Urteil ihren üblen Rechtsausdruck fand.