V-Recht

/ Haimo L. Handl

Zwei kürzliche Ereignisse in Deutschland lassen aufhorchen und steigern die Besorgnis über die rechtsstaatliche Lage dort. Es geht um eine Art Vertrauensrecht (V-Mann-Wesen), das zu einem extremen Vertrauenseinbruch rechtsstaatlicher deutscher Einrichtungen führte. Einerseits die spärlichen, aber doch deutlichen Aufdeckungen der Machenschaften und Arbeitsweisen des deutschen Verfassungsschutzes, andererseits der soeben zu Ende gegangene Prozess gegen Verena Becker, in dem das Gericht nicht in der Lage oder nicht Willens war, Näheres zu ergründen und endlich die Fragen nach den Mördern von 1977 des Generalbundesanwalts Siegfried Buback und zwei Begleitern offenzulegen.

Im Gegenteil, der Nebenkläger Michael Buback, Sohn des Ermordeten, wird in vielen Medien ob seiner Insistenz und Nachforschungen angegangen und verurteilt, sogar der Richter rügt ihn, obwohl er als Laie mehr ans Tageslicht brachte, als die Experten damals bzw. in der 35-jährigen Zwischenzeit.

Vieles bleibt unklar. Auffällig, dass wichtige Fragen nicht beantwortet werden bzw. gar nicht offiziell gestellt werden dürfen, und dass aus gewissen Gerichtsakten nicht zitiert werden darf. Offensichtlich sollen die Hintergründe der Kooperation deutscher Geheimdienste mit der ehemaligen RAF-Terroristin verdeckt bleiben. In Deutschland sind die Gerichte, wie in jeder anständigen Demokratie bzw. ordentlichem Rechtsstaat, unabhängig. Es ist aber wie in Eriwan: Im Prinzip schon. Aber im Speziellen nicht. Staatsräson geht vor, Gerichte beugen sich, ohne dass das offen beweisbar wäre. Die Schlussfolgerungen drängen sich aber auf, weil so vieles ‘zufällig’ dergestalt sich entwickelte bzw. unterlassen wurde, dass es stinkt, wie in einem Shakespearedrama. Zufällig wurden schon vor Jahren wichtige Akten vernichtet. Zufällig wurde gewissen Spuren nicht nachgegangen, wurden gewisse Leute nicht befragt und überprüft. Zufällig lag es im Interesse der Republik und ihrer Geheimdienste…

Ein ähnliches Bild bietet der Verfassungsschutz. Die Praxis mittels Neonazis als V-Leuten die Naziszene unter Kontrolle zu halten, ist eine Vorgabe, die durch die Praxis tödlich widerlegt wurde. Den Opfern hilft es wenig, ob die Morde aufs Konto von ‘kontrollierten’ Nazis gingen oder nicht. Sie sind tot, ermordet von Neonazis, also Terroristen, die im Schutz deutscher Geheimdienste Privilegien genossen, so dass es schwer fällt, nicht von einer systematischen Kooperation zu sprechen, die manche sogar Kumpanei nennen.

Im Verfassungsschutz bzw. mit ihm betrauten Polizeiorganisationen wurden auch just jene Dokumente vernichtet, die eine Nachverfolgung und Überprüfung von Täterverhalten bzw. Polizeiaktionen erlaubt hätten (nicht nur in Thüringen, auch im Bundesamt). Auch half ein Kompetenzwirrwarr, der nicht zufällig existierte, der Vereitelung und Verdeckung erfolgreichere Polizeiarbeit. Mit dem Rücktritt des obersten Verfassungsschützer Heinz Fromm ist der Öffentlichkeit, quasi als Ablenkungsmanöver, ein Bauernopfer gereicht, aber nichts schlüssig erklärt worden. Es steht zu befürchten, dass auch nichts Wesentliches zutage gefördert werden wird, obwohl jetzt in einigen Medien die brisante Frage aufgeworfen wird ‘Wer schützt uns vor den Verfassungsschützern’ und offen beklagt wird, dass der Verfassungsschutz eine ‘Behörde auf Abwegen’ sei, und jetzt wieder, wie so oft in der Vergangenheit, ein eigener parlamentarischer Untersuchungsausschuss sich der Materie annimmt. (Immerhin ist die Verfassungsschutzbehörde mit den entsprechenden Landesämtern seit je in Skandale verwickelt, und haben mehrere Untersuchungsausschüsse keine wesentlichen Reform erwirkt.)

Besieht man die Geschichte des deutschen Verfassungsschutzes, einiger Geheimdienste inklusive des BND und der Justizverwaltung nach dem 2. Weltkrieg, zeigt sich das besorgniserregende Ausmaß der unterlassenen oder nur oberflächlich vollzogenen Entnazifizierung. Ein anderes Kapitel stellen gewisse Übernahmen ehemaliger DDR-Experten dar. Aber wiederum zwingt die Staatsräson zur Kosmetik: Es darf nicht zuviel bekannt werden. Cui bono? Rechte Kräfte wirken nicht nur in der bekannten Neonaziszene, die besonders in den neuen Bundesländern stark ist, sondern inmitten der Verwaltungen und Exekutiven der deutschen Republik. Deutschland ist von innen gefährdet, da, wie sich immer deutlicher zeigt, auch die Gerichte weder frei noch willens noch fähig sind, frei Recht zu sprechen.