Verstümmelung

/ Haimo L. Handl

Das Kölner Landesgericht hat erkannt, dass Beschneidungen, auch von Buben, eine Verstümmelung darstellen und das Recht auf körperliche Unversehrtheit verletzen. Dieses Rechte übertreffe das der Erziehungsrechte der Eltern bzw. das der Religionsfreiheit. Ein Sturm der Entrüstung brach los; viele nannten das Urteil falsch und verfehlt, weil es alte Riten religiöser Gemeinschaften kriminalisiere und unter Strafe stelle, weil es die vielbemühte Toleranz missachte.

Die Praxis der Beschneidung ist zumindest bei Mädchen im Westen Unrecht. Bislang war die Beschneidung von Buben toleriert oder akzeptiert. Besonders betroffen sind Angehörige moslemischer und jüdischer Konfessionen.

Einige Experten meinen, bei dieser Beschneidung handele es sich um keinen gravierenden Eingriff, weshalb man ihn nicht verbieten solle. Die Gläubigen berufen sich auf ihre Religionsfreiheit bzw. die Freiheit jedermanns über seine Lebensweise selbst zu entscheiden. Dass hier Erziehungsberechtigte für Unmündige entscheiden, wird nicht weiter argumentiert.

Es fällt auf, dass einerseits die Deutung der Religionsfreiheit extrem weit gefasst und andererseits der persönliche Freiheitsbegriff bemüht wird, obwohl beides einer strengeren Prüfung nicht standhält. Die Freiheit zur eigenen Religion ist nicht gleichbedeutend mit allen Praxen, die eine Religion in ihren Riten pflegt oder pflegen möchte. Auch der Rekurs auf eigene Kulturwerte taugt nicht absolut. Es gibt keine Absoluta in einem säkularen Staat.

Hinsichtlich rassistischer Aspekte, insbesondere im Zusammenhang mit dem Nazismus, scheint Einhelligkeit gegeben. Niemand würde ein Berufen auf nazistische Kulturwerte (ja, es war eine Kultur, wenn auch eine schreckliche Unkultur) akzeptieren, um z. B. die Vernichtung unwerten Lebens damit zu legitimieren, die Vertilgung von Untermenschen, die Benachteiligung gewisser ethnischer Gruppen usw.

Wir würden auch Sklaverei nicht akzeptieren, ebenso nicht Kinderverheiratung, Kinderschändung oder Kindersoldatenwesen, auch dann nicht, wenn Gruppen dafür ihre spezifischen Kulturwerte, die sie ja wären, auch wenn es um Unkulturen ginge, vorbrächten.

Das heißt, im Westen beanspruchen wir die Durchsetzung von Werten, die woanders in anderen Kulturen nicht gelten mögen. Das hat nichts mit höherer Wertigkeit zu tun, sondern mit unserem ideologischen und politischen Anspruch. Auch ohne religiöse Verbrämung und unhaltbaren universalistischen Appellen sind diese unsere Grundsätze anmeld- und durchsetzbar.

Aber eben aus ideologischen Gründen widersprechen viele und plädieren z. B. für Beschneidung. Es wundert einen, dass nicht auch gefordert wird, dass die elterliche Gewalt so weit gehen muss, die unumschränkte Verfügung über Unmündige zu praktizieren. Wird dies anerkannt, gibt es keine Debatte mehr um Zwangsehen, Ehrenmorde usw.

Das Argument des ‘nicht gravierenden Eingriffs’ erstaunt noch mehr. Bei uns ist endlich auch ‘die gesunde Watsche’ verboten. Sie ist aber wesentlich harmloser als eine Beschneidung, die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Auch Prügelstrafen hinterlassen, außer sie erfolgen extrem intensiv, keine bleibenden Schäden. Alles nicht wirklich gravierend. Also erlauben?

Die Maßnahmen müssten eigentlich weiter reichen: Eltern oder Erziehungsberechtigten sollte es nicht mehr erlaubt sein, mit der Taufe eine rechtsgültige Mitgliedschaft des Kindes in einer Kirche zu erwirken. Es reichen schon die Vertragsvereinbarungen der säkularen Gesellschaft (z. B. Schulwesen, Versicherungen etc.). Aber keine Partei, Gewerkschaft oder Kirche soll Kinder rechtsverbindlich als Mitglieder aufnehmen dürfen. Diese sollen bei Erreichen ihrer Geschäftsfähigkeit selbst entscheiden. Das würde den Kirchen viele Mitglieder vorenthalten. Jene, die dennoch beitreten, wären überzeugte Mitglieder und keine passiven, die der Gewohnheit, dem Sozialdruck folgen.

Wir sind in vielem zu tolerant, wiewohl das Gegenteil behauptet wird. Die Toleranz gegen Intolerante (eine überzeugter Religiöser kann und darf im Wesentlichen seines Glaubens nicht tolerant sein!) schwächt aber unsere Gesellschaft, führt zu fataler Unverbindlichkeit einerseits und zu überhöhten Ansprüchen andererseits.

Ein anderes Beispiel: Verschiedene Mafiaorganisationen berufen sich auf alte Ehrbegriffe und Riten. Ein freiheitlicher Rechtsstaat wird dennoch nicht diese Ehr- und Rechtsansichten und daraus folgenden Praxen, wie z. B. Erpressung, Sabotage, Abfackelungen, Folter, Todesstrafen) dulden (wie effizient, ist eine andere Frage.).

Wir sollten froh sein, dass viele, viele Gebräuche nicht nur aus der Mode kamen, verpönt sind, sondern strafbar. Sonst müssten wir zusehen, wie Herrschaften, die hier und dort sich immer noch als solche verstehen, vom ‘Recht der ersten Nacht’ Gebrauch machten, wir hätten Minipaschas, die die Erfüllung ‘ehelicher Pflichten’ brutal einforderten, Mädchen am Nasenring führten oder Verfehlungen mit Folter oder Todesstrafe (z. B. durch Steinigen) ahndeten. Alles kulturell gewachsen und verbürgt. Aber nicht mehr gültig, zumindest offiziell bei uns nicht.

Es ist noch gar nicht so lange her, als bei uns der Mann ungefragt der familiäre Bestimmer und Verwalter war. Später zumindest der Haushaltsvorstand. Langsam erst änderte sich das. Aber immer noch ist nicht jene Gleichheit zwischen den Geschlechtern erreicht, die für eine offene, reife Gesellschaft möglich wäre. Und die Benachteiligung gleichgeschlechtlicher eheähnlicher Verbindungen ist immer noch nicht vom Tisch.

Erfreulicherweise wachsen die Rechte der Kinder. Aber zu langsam und zu wenig weitgehend. Verstöße werden nicht effektiv geahndet. Dass der Schutz der körperlichen Unversehrtheit nun auf die Beschneidung von Jungen ausgedehnt wird, ist ein Erfolg, wenn auch Gutmenschen und Pseudotolerante in den Chor der jüdischen und moslemischen Gläubigen einstimmen, die diese Rechtshaltung bekämpfen und verurteilen.

Traditionen sind, wie Religionen, keine Werte an sich. Es gibt keinen Wert an sich. Alle Werte stehen in Bezügen, die sich aus komplexen Strukturen ergeben. Dass einige Religionsgemeinschaften extrem langsam in ihren Anpassungen an den Entwicklungslauf der Gesellschaften sind, ist kein Argument für sie. Der säkulare Staat hat sicherzustellen, dass seine Grundrechte, seine verfassungsgemäßen Werte, allgemein und strikt gelten. Ohne Ausnahme.