Das rechte Benennen

/ Haimo L. Handl

Kürzlich las ich wieder in Goethes Faust. Und wieder erstaunte ich, wie leicht der aktuelle Bezug des alten Stoffes herstellbar ist. ‘Wer darf das Kind beim rechten Namen nennen? / Die wenigen, die was davon erkannt, / Die töricht genug ihr volles Herz nicht wahrten, / Dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbarten, / hat man von je gekreuzigt und verbrannt.’ (Faust I, Faust im Gespräch mit Wagner)

Goethe ist ‘out’, wie man so unschön sagt. Leider. Es geht aber nicht nur um den Pöbel oder die Freiheit der Meinungsäußerung. Es geht auch um die Wahrheit, das heißt, um die rechte Benennung dessen, was ist. Wahrheiten gibt es viele. Und keine hat aus sich heraus Recht. Recht folgt aus Macht. Und nicht alle Wahrheiten haben die Macht Recht zu haben.

In einer offenen Gesellschaft meinen wir sollte es möglich sein, dass Wahrheiten konkurrieren. Dem steht aber die angemaßte Deutungshoheit Mächtiger gegenüber. Das war und ist nicht nur in Diktaturen so. Das erleben wir heutzutage auch sogenannt freien Gesellschaften. Die verschiedene Art des Durchsetzens der Deutungshoheit macht noch den ‘feinen Unterschied’ aus zwischen brachial gewalttätiger Verfolgung und Ahndung von Häretikern, Frevlern, Lästerern und ihrer ‘bloßen’ sozialen Ächtung, dem Rufmord.

Wer will der Wahrheit schon ins Antlitz sehen? Die Wahrheit ist dem Menschen schier unerträglich, sogar dann, wenn er gebildet zitiert, sie sei dem Menschen zumutbar, und den anderen Satz nicht kennt oder vergaß, dass wir die Kunst haben, um an der Wahrheit nicht zugrunde zu gehen.

In der documenta zeigen die Künstler, dass die Wahrheit außerhalb der Kunst liegt. Man lobt ihr politisches Engagement. Aber was zeigen sie im Nennen und Benennen? Es passt ins Gefüge, es taugt für den Kunstzirkus, die große Show.

Die Hochsaison und Renaissance der Religionen stellen die starken Versuche die Wahrheit zu verdecken, indem sie religiös gedeutet wird, unter Beweis. Meist verbunden mit einer kämpferischen Unduldsamkeit gegen Ungläubige, die nicht folgsam sind.

Immer wieder werden Gedankenspiele kolportiert: Was, wenn ein Jesus heute aufträte? Ein Gandhi? Er würde nicht weit kommen. Nun, beide sind gewaltsam umgekommen. Aber heute würde sie in noch viel kürzerer Zeit vernichtet: sie wären ein solch extremer Affront, dessen man sich sofort entledigte. Die Wahrheit der Gewaltlosigkeit gilt nicht, die der Bergpredigt schon lange nicht mehr. Die Nachfahren der Apostel oder Gandhis Erben folgen den Sachzwängen. Sie haben keine Probleme mit IHRER Wahrheit, die eben nicht DIE Wahrheit ist. Was sie beim Namen nennen, sei das Rechte und Gute. Aber in Frage stellen darf man das nicht. Je nach Ort und Gesellschaft schlagen die Mächtigen zurück. Erben und Apostel, Exekutoren und Manager, die die Politik bestimmen und machen. Die Macher.

In den Medien, besonders in Deutschland, geifern die Intellektuellen und Journalisten, wenn jemand seine Wahrheit äußert, die nicht ins Konzept, den Rahmen passt. Der Tiefstand der Geisteskultur ist unübersehbar, aber es wird so getan, als ob alles korrekt sei, als ob ihre Wahrheit, ihre Art, das Kind beim Namen zu nennen, die richtige sei. Und urteilen danach, verfolgen danach, richten danach. Der Unterschied …

Wir haben Gedankenfreiheit, heißt es. Aber was, wenn jemand es wagt, seine Gedanken, die nicht approbiert sind, zu äußern? Welche Wahrheit ist wem wann wie zumutbar? Wer entscheidet?

Viele Fragen, die Faust stellt, sich und auch mir oder jedem Leser, der selber weiterdenkt und nicht nur folgsam kanonisierten Deutungen folgt. Das Kind beim rechten Namen nennen. Eine alte Metapher und Redewendung. Klingt wie ‘calling a spade a spade’ oder ‘2x2=4’. Aber das rechte Benennen ist nicht so einfach, weil nicht so eindeutig. Etwas ist wahr und zugleich nicht (ganz).

Dort, wo gesicherte Wahrheiten mit Macht und Gewalt durchgesetzt werden, wo die Deutungshoheit ihren Terror führt, ist’s um die Freiheit geschehen. Dem langsamen Verlust dieser Freiheit, auf die früher Europa seit der Aufklärung stolz war, scheinen ‘die wenigen, die davon erkannt’ nichts Taugliches entgegensetzen zu können.