Substandard

/ Haimo L. Handl

Wir leben in Integrationszeiten und freundlicher, korrekter Politik. Trotz Integration wird die Diversität und Segregation gefördert, zumindest kulturell. Eigenheiten werden nicht nur herausgekehrt oder betont, sondern ab- und ausgrenzend als Identifikationsmittel so stark eingesetzt, dass die Integration kaum gelingt, weil sich dieses Unterfangen nicht nur politisch, sondern auch im Alltagsleben auswirkt. Auch im Sprachlichen, sowie generell im Bildungsbereich, wird nicht versucht, den Sprach- oder Wissenserwerb effektiv zu fördern. Das Erlernen der Landessprache wird für Emigranten von vielen als Zumutung gesehen, Versuche zur Hebung des Sprachniveaus von Inländern als bürgerliche Anmaßung. Die erstrebte Gleichstellung bzw. Gleichheit erfolgt über die Senkung des Bildungsniveaus.

Die Massenmedien wirken da seit Jahren kräftig mit. Um ihre Klientel breitestmöglich zu erreichen, üben sie sich schon lange in einem Basis- oder Neudeutsch, meiden komplexe Satzbauten oder überhaupt elaborierte Sprache. Der Einfluss von Slangs und Ghettojargons wird von der Werbung smart aufgegriffen und in einer Gemangelage von Neudeutsch kommuniziert. Die neuen Medien, insbesondere Social Net und Twitterei, helfen die Kurzsprech entsprechend dem Kurzdenk zu verfestigen. So sieht die neue, freundliche Offenheit aus. Aus Respekt vor den Eigenheiten der Anderen wird im Abbau von Kultur, Bildung und Sprache eine Annährung gesehen: weg mit den Barrieren. Und Sprachanforderungen sind Barrieren.

Die dumm-naive Ansicht wird z. B. im Verkehrsbereich oder in der Technik noch nicht geübt. Dort gelten Regelbefolgungen als obligatorisch. Regelbrüche würden sofort schmerzliche Ergebnisse bewirken. Nicht so im Kulturellen. Hier dient die verlogene, politisch-korrekte Permissivität und Pseudooffenheit der Chimäre der begrüßten Vielfalt.

Für Inländer wie Ausländer bedeutet aber das Ablassen von hohen Standards eine Abschiebung an die Peripherie durch Nichtvermittlung hoher Sprachkenntnisse. In den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, als linke Vor- und Nachdenker sich bemühten, emanzipatorisch tätig zu sein, waren die Arbeiten bezüglich restringierten und elaborierten Sprachkodes bekannt, wurden Politiken im Sprach- und Bildungsbereich danach ausgerichtet. Vor allem in den Zwanzigerjahren haben die sozialistischen Arbeiterbildungsvereine sich am bürgerlichen Bildungsmodell orientiert, um das Kultur- und Bewusstseinsniveau ihrer Genossen zu heben. Die Verantwortlichen hatten erkannt, dass es nicht nur einer Alphabetisierung bedarf, sondern gesteigerter Kenntnisse diverser Kulturtechniken im Verbund mit gewachsenem Wissen, um vorwärts zu kommen.

Heute ist dieses Wissen nicht mehr opportun. Aus einer gewissen Feigheit heraus und wegen der grassierenden Werteschwäche unterbleiben solch zukunftsorientierte Sichten und Arbeitsprogramme. Man biedert sich an, man nivelliert, man gleicht nach unten hin ab. Dass damit die reale Zukunft, politisch, wirtschaftlich und kulturell unterminiert und geschwächt wird, scheint vielen Korrekten nicht aufzugehen.

Diese Problematik ist in allen Ländern der EU zu beobachten. In der Schweiz läuft schon seit Jahren eine Debatte um den Stellenwert des Dialekts Schweizerdeutsch. Für weite Teile gilt Hochdeutsch als zweite Sprache, die erlernt werden müsse, die man aber eigentlich nicht brauche. Rechtsstehende Nationalisten verbünden sich mit etlichen sich links-grün verstehenden Korrekten für die besondere Pflege des Dialekts als erster Muttersprache.

Die Probleme der Abschottung und Verdünnung des Sprachwissens, der Isolation von der deutschen Sprachgemeinschaft, wiegen wenig. Wenn Fachleute für Hochdeutsch plädieren, nicht als alleinige Sprache, sondern als ebenbürtige Muttersprache neben dem Dialekt, werden sie oft der unangebrachten Deutschfreundlichkeit geziehen.

Der Literaturwissenschaftler Peter von Matt hat in einem Vortrag 2006 sich dieses Themas angenommen. Seine interessanten Ausführungen sind jetzt im kürzlich erschienenen Buch „Das Kalb vor der Gotthardpost“, einer Sammlung hervorragender Essays und Vorträge, nachzulesen. Er wendet sich vehement gegen die Meinung, Hochdeutsch sei in der deutschen Schweiz eine Fremdsprache. Er weist die Möglichkeit, nur mit Dialekt auskommen zu können, zurück:

„Von der Erfahrung aus, dass der Dialekt privat und zwischenmenschlich vollauf funktioniert, schließt man darauf, dass er eigentlich genüge. Dass es auch ohne Hochdeutsch ginge. Und so behandelt man dieses immer mehr als eine lästige Zutat und ersetzt es in immer weiteren Bereichen durch die Mundart. Das läuft in der Konsequenz auf eine Verstümmelung unserer Muttersprache hinaus“.

Nach detaillierten Betrachtungen und Abwägungen heißt es weiter: „Das hat auch ideologische Hintergründe. Es hängt mit der verkehrten Meinung zusammen, der Dialekt sei das Natürliche und Hochdeutsch etwas Fremdes und Befohlenes, also für uns unnatürlich. Eine Art Sprachrassismus geistert da herum, ein pseudodemokratischer Kitsch, zu dem unser Land ja ohnehin neigt. … Perfektes Hochdeutsch gilt als sinnlose Anstrengung; wer sich darum bemüht, ist elitär, nicht volksnah, irgendwie undemokratisch. Demokratisch ist, wenn alle gleich schlecht reden und gleich schlecht schreiben.“

Wenn wir in Österreich anstatt des Dialekts die Problematik des Sprachunterrichts nehmen, insbesondere für Migranten, gelten die Aussage gleich. Besonders Linke und Grünen sehen in den Sprachanforderungen und –prüfungen Schikanen. Auch für Inländer gilt eine eigentümliche, leistungsfeindliche Sicht: nur ja nicht überfordern. Allzuviele geben sich mit den in schlechtem Basisdeutsch geschriebenen Gratisblättern zufrieden, glotzen die üblichen, ihnen durch niederstes Niveau entgegenkommenden Sendungen. Nur im Sport oder bei Castings scheinen sie gewillt, Hochleistung zu erbringen. Geistig nicht. Peter von Matt hat gut beobachtet: Der Trend geht nicht, wie in den Siebzigerjahren, nach verstärkter Bildung, also um die Hebung niederer Niveaus nach oben, sondern um den Abbau, damit man sich bequem unten treffen kann.

Ich habe über 20 Jahre als Lektor an der Universität gelehrt. Nach und nach staunte ich über den Niedergang sprachlicher Ausdrucksfähigkeit, wie ich ihn aus den schriftlichen Arbeiten entnehmen musste. Dem geschwundenen, schwachen Wissen folgte ein verringertes Sprachvermögen. Dabei fokussierte ich nicht auf Formalien der Rechtschreibung und Interpunktion. Aber die simpler werdenden Kurzsätze, die Unfähigkeit vieler, komplexe Sachverhalte adäquat in sprachlichen Ausdruck zu übertragen, die dramatische Reduktion des Wortschatzes, das Ansteigen des Gebrauchs von Stereotypen und Klischees, all das machte mich betroffen und besorgt.

In Großbritannien hat sich soeben die Queens English Society aufgelöst. Sie findet keine Arbeitsmöglichkeiten mehr. Im heruntergekommenen britischen Bildungssystem wird seit Jahren der niedere Standard der Muttersprache beklagt. Es fanden sich jedoch keine Wege, ihn zu heben. Viele Experten meinen jedoch, man solle die Rechtschreibung nicht so ernst nehmen und unterschiedliche Schreibweisen akzeptieren. The downgrading is in! Im Namen der kulturellen Diversifikation und als Ausdruck einer multikulturellen Gesellschaft wird die private Freiheit zur Regelmissachtung gepriesen.

Die Englischprofessorin Margaret Reynolds meint: „I value a respect for the interests and feelings of others. Cultural policing (even of this kind) is always dangerous, because it says that I am right and you are wrong.” Na bitte. Um das zu vermeiden, pochen sie nicht mehr auf Regeln. Smarte Lösung, nicht? Dem fügt sie noch beschwichtigend hinzu „Standards in English have always been going to the dogs.“ Und der Wert der Gegenwartssprache, wie rudimentär auch immer, wird beschworen: „For more than a century now, we have been able to hear the voices of the dead, and they speak a language already strange.“

Das heißt im Klartext: Keine Hochsprache als Standard. Let them talk (and write) as they wish and can… In SP!KED, einem radikalen Magazin aus London, bemerkt der Redakteur Brendan O’Neill: “Today’s discomfort with standard language is summed up in the slurs that have been invented to attack those who defend it: they are always ‘spelling fascists’, or ‘grammar police’ who, in the words of THE TIMES (!), are leading a ‘pedants’ revolt’ against txtspeak.” Nach einer Argumentation, die jener Peter von Matts gleicht, schließt er: “The refusal to uphold a standard language is really a refusal to be universal. It is the promotion of parochialism at the expense of public engagement, and introversion over expanding one’s horizons. … There is revolutionary potential in having everyone adhere to the same linguistic rules; there is only the dead end of division and parish-pump platitudes in the promotion of a linguistic free-for-all in which eevn spleling doens’t matetr.”

Der Sprachverfall korrespondiert mit dem gesellschaftlichen. Bedauerlich, dass die Anwälte der Nivellierung als Heilsbringer verkannt werden.