Vergeuden

/ Haimo L. Handl

Vergeuden ist nicht per se negativ. Unter gewissen Umständen kann es eine hohe Qualität sein, dass man sich selbst oder etwas Anderes vergeudet oder vergeuden kann. Die Qualität, vor allem die übliche negative, rührt von den Verhältnissen, dem Maß, den Auswirkungen her. Ressourcenvergeudung kann rasch zu dauernden oder nachhaltigen bzw. irreparablen Schäden führen. Verschwendungshaltungen sind meist auch Ausdruck respekt- und rücksichtslosen Verhaltens, bar jeder Verantwortlichkeit.

Das Gegenteil von Verschwendung und Vergeudung ist aber nicht der Geiz, auch wenn der als geil angepriesen und verkauft wird, nicht die extreme, spießige Sparsamkeit, sondern der maßgerechte, verantwortliche Umgang mit Ressourcen, sei es eigenen (Energien, Zeiteinheiten) bzw. anderen.

Der Französische Intellektuelle und Schriftsteller Paul Valéry notierte einmal zu diesem Thema bedenkenswerte Sätze, aus denen hier einige zitiert seien:

‘Sollte das Vergeuden nicht eine öffentliche und dauernde Notwendigkeit geworden sein? Vielleicht käme ein genügend entfernter Beobachter beim Blick auf den Stand unserer Gesittung auf den Gedanken, der Große Krieg sei nichts anderes gewesen, denn eine verhängnisvolle, gleichwohl jedoch unmittelbare und unausweichliche Folge der Entwicklung unserer Technik. Die Ausdehnung, die Dauer, das alles Durchdringende, ja auch das Entsetzliche dieses Krieges entsprachen der Größenordnung unseres Vermögens, Kräfte zu entbinden. Die Hilfsquellen und die Industrien, die wir im Frieden erschlossen hatten, gaben ihm sein Maß, und durch seine Größenordnung war er von den Kriegen früherer Zeiten genauso verschieden, wie unsere technischen Mittel, unsere materiellen Hilfsquellen unser Überfluß es erheischten. Doch lag der Unterschied nicht nur im Quantitativen: in der stofflichen Welt kann man ein Ding nicht vergrößern, ohne daß nicht sehr bald Quantität in Qualität umschlüge.’

Er rührt damit besonders an ein Kernproblem des Kapitalismus. Ohne Verschwendung, ohne Vergeudung funktionierte der Kapitalismus nicht. Valéry starb 1945. Seine Sätze sind aber aktuell, weil die gegenwärtigen Bedingungen der Dauerkrisenproduktion unserer Gesellschaften nicht nur die ökonomische Aushöhlung im brutalen Umverteilungsprozess zugunsten der Profiteure beweist und für immer weitere Kreise und Massen konkret spürbar macht, sondern weil die Entwertung nicht nur das Geld betrifft (Inflation), sondern auch soziale Wertsysteme, die in gesteigerter Geschwindigkeit geschwächt und zersetzt, zerbrochen werden, um die haltlose Vergeudung höher und höher zu treiben.

Das wirkt sich klarerweise nicht nur hinsichtlich natürlicher Ressourcen aus, sondern auch humaner, da die Menschen als Menschenmaterial, als human capital, längst schon derart als verdinglichte Posten in den Kalkulationen der Profiteure rangieren, dass es nur eine Frage der Zeit ist, wann IHRE Vergeudung wieder konkret wird. Sprach man früher in konkreten Fällen vom „Kanonenfutter“, reibt das erfolgreiche Marktsystem heute immer mehr ‘Untaugliche’ und ‘Schwache’ auch in ‘Friedenszeiten’ auf, macht sie ‘fertig’; die enorm hohen Zahlen physisch und psychisch Kranker können als ‘Opferzahlen’ von ‘Kollateralschäden’ gerechnet werden, die offensichtlich in Kauf genommen werden, um das Geschäft am Laufen zu halten.

Man braucht nicht viel Fantasie um sich auszumalen, dass es bei weiteren Krisenintensivierungen nicht bei dieser Art von Vergeudung von Humanexistenzen bleiben wird; die vielen konkreten, realen Kriege sind Ausdruck der Vergeudungsaktionen, der Eliminierungsprozesse, die bei uns in der ‘entwickelten, freien westlichen Welt’ noch Vorboten sind, während woanders die Realität der Existenzvergeudungen jener der Ressourcenraubzüge und -vernichtungen gleicht.

Die breiten Ablenkungsprogramme in den hochentwickelten Ländern erfüllen in diesem Verschwendungs- und Vergeudungsprozess, der ja auch einer der extrem schnellen Veralterung ist, mit immer neuen Zwängen instrumentalisierter Pseudoinnovation, ihre Aufgabe der Filterung, Wattierung und Täuschung höchst professionell managed und wirksam. Wie lange noch?

Im gegenwärtigen Szenario ist leicht vorstellbar, dass Versuche einer Kursänderung, gar einer wirksamen Vergeudungsverhinderung, als schwerwiegende Systemstörung gebrandmarkt und geahndet werden, indem man sie als asozial hinstellt: Denn wer nicht vergeudet, wer spart oder vernünftig haushaltet, paralysiert die Wirtschaft, die nun mal auf Wachstum ausgerichtet ist, und ohne Vergeudung und Verschwendung sofort zusammenbräche. Der Sozialdruck, mehr und mehr zu produzieren, um in gesteigerter Geschwindigkeit mehr und mehr zu konsumieren, zu ‘verbrauchen’, wird so extrem anwachsen, dass jene, die davon Abstand nehmen (wollen), als Asoziale, als Schädlinge, als Verbrecher dastehen und verfolgt werden.

Die Manöver zur Bewältigung der sogenannten Eurokrise demonstrieren das bereits eindrücklich. Ähnlich, wie Finanzmittel ‘verheizt’ werden, erwartet eine wachsende Menge von Menschen als Teil des unnützen oder unbrauchbar gewordenen Menschenmaterials das Schicksal der ‘Bereinigung’ im Zuge der ‘Marktanpassung’ durch ‘Verheizen’.