Die Grass-Affäre und was dahinter steckt

/ Haimo L. Handl

Die instrumentalisierte Grass-Affäre, die wüsten Beschimpfungen und Verurteilungen des Autors Günter Grass als Antisemiten, Nazi und SS-Mann, weil er in einem Gedicht, einer typischen Gebrauchslyrik, eine Kritik an den bekannten Kriegsplänen Israels gegen den Iran äußerte, belegt eine tiefe Malaise im ‘Westen’, die herrschende Doppelmoral und den Terror der selbstgerechten ‘Tugendhaften’.

Die Debatte um Grass steht aber weit über Israel hinaus für die Machenschaften der noch einzigen Supermacht und kriegerischen Hegemonialmacht USA, die im Verbund mit Israel nicht nur den Nahen Osten kontrollieren will, sondern geopolitische Maßnahmen treffen will, die die Fortführung ihres Einflussbereiches und ihrer Ressourcenraubzüge garantiert.

Weiters belegt die Affäre, wie tief das Niveau im Westen gesunken ist, wenn Intellektuelle so leicht zu Kollaborateuren werden und sich als Büttel in den Dienst der vermeintlich guten Sache stellen. Viele sind dumm, wissen es nicht besser, blöken als Mitläufer, aus Angst, eigenes Denken, eigene Kritikfähigkeit unter Beweis zu stellen, wenn diese dem main stream, der geltenden politischen Korrektheit nicht entsprechen. Viele sind aber wissend im Dienst der Täuschung, des Betrugs, der gezielten Kampagne nach ideologischen und politischen Vorgaben der USA und Israels.

Dass Warnungen vor einem Nuklearkrieg in so unverschämter Weise umgedreht werden beweist, dass ein Kriegsdenken samt der Drohung mit der schlimmsten Massenvernichtungswaffe, die es gibt, dem Atomschlag, vorherrscht und für ‘gut’ befunden wird, wenn es von den Vertretern der ‘westlichen’ Macht, der ‘Korrektheit und Wahrheit’, gefordert wird.

Dass vernünftige Menschen geflissentlich übersehen, dass die USA bisher die einzige Nation sind, die Atombomben einsetzte, dass Israel sanktionslos sich zur starken Atommacht mauserte und oft mit Atomschlägen drohte, dass Israel keine Inspektionen seines Atomprogramms erlaubt, ja auch den NPT nicht unterzeichnet, alles ohne Sanktionen, während dem Iran mit Krieg gedroht wird, weil er anscheinend keine vollen Inspektionen gestatte, beweist ihre Mitläuferschaft, ihre Kollaboration mit den Kriegstreibern.

Die Argumentationen gegen Grass belegen am Rande zudem ein hysterisches ideologisches Vereinfachen, das auch Ausdruck eines ahistorischen Denkens ist, wie man es für gewöhnlich dem Feind ankreidet. In den Dienst der sich tugendhaft Wähnenden wird dieses Undenken verwandelt und Kritik desavouiert. Eine neue Form des Terrors macht sich breit und wird just von denen unterstützt, die dauernd vor Nazis und Terroristen warnen. Ein fast typischer Fall von Biedermännern und Brandstiftern - nur mit umgekehrten Seiten.

Das Argument mit der Abschreckung gilt nur dort, wo das Gegenüber ‘gleichwertig’ abgeschreckt werden kann. Die Gefahr, dass ein Einsatz von Atomwaffen zu einem Gegenschlag führt, der den Angreifer selbst enorm schädigt, führt, nach der alten Doktrin, zum Nichteinsatz. Israel hat Atomwaffen, der Iran nicht. Hier besteht ein eklatantes Ungleichgewicht, eine tödliche Asymmetrie. Diese führt beim Gegner eher zu Verzweiflungstaten als bei einer rational berechenbaren Abschreckung der Fall wäre, die BEIDEN Parteien bedeutet, dass es, ob Erst- oder Zweitschlag, beide gleichermaßen trifft.

Wer ungeprüft annimmt, der Iran halte sich an keine solche Rationalität, sondern werde selbstmörderisch Atomwaffen einsetzen, sobald er sie habe, übersieht, dass die durchaus rationalistisch agierenden USA, die westliche Musterdemokratie, keine Scheu hatte, ihre Atomwaffen gleich zweimal einzusetzen. Die Vernunft findet immer Gründe, scheinbar irrationales Verhalten rational zu begründen. Das fällt niemanden schwer, weder den USA noch Israel.

Erst als die USA ihren kurzfristigen Status als alleinige Atommacht eingebüßt hatten, konnte das Abschreckungskonzept greifen. Dass es im Nahen Osten nicht funktionieren soll, ist Propaganda zur Sicherung der Vormachtstellung Israels und seines Finanziers USA (mit deren eigenen hegemonialen Interessen).

Das Argument, der Iran sei eine barbarische Diktatur, Israel aber eine Demokratie, greift bezüglich der Kriege zu kurz. Die USA haben, wie erwähnt, als Demokratie keine Bedenken gehabt, Atomwaffen einzusetzen, und würden sie wieder einsetzen, wenn ihre Strategen einen sicheren Vorteil ausrechnen. Das Gleiche gilt für Israel. Schließlich geht es nicht um Moral, sondern Realpolitik.

Im Übrigen ist das Aburteilen und Etikettieren gewisser Staaten als besonders barbarisch oder irrational böse (Schurkenstaatendoktrin des edlen Mr. Bush!) nicht nur eine gut geübte Stereotypie seit den Tagen des Kolonialismus, sondern auch eine fatale Vorurteiligkeit, die hilft, den eigenen Status besonders positiv hervorzuheben, womit Taten, die sonst als böse und barbarisch gegeißelt würden, dann rationalisiert als gewissen Sachzwängen gehorchend hingestellt und hingenommen werden. Für die Opfer eine zynisch akademische Frage, ob sie durch einen Krieg einer demokratischen, rational denkenden Macht umkommen oder durch wahnwitzige Manöver Unberechenbarer. Wie berechenbar war denn der amerikanische Atombombenabwurf? Klar, gab es eine. Aber auf einer ganz anderen Ebene der Vernunft, als wir sie gemeinhin reklamieren. Der kalten Vernunft des Nutzen- und Machtkalküls. Damit entsprachen diese Politiken jedoch weder den vielbeschworenen hohen Werten westlicher Aufklärung noch ‘gesitteter’ Kriegsführung.

Allein dass argumentiert wird, ein Atomkrieg wäre legitim, zeigt schon den Ungeist. Hier soll man Farbe bekennen: Nachdem keine anderen Werte offensichtlich mehr taugen, jemanden, der die Mittel hat, vom Atomkrieg abzuhalten, außer denen der blanken Gegenmacht, das heißt, des Risikos, doch mit einer ‘Antwort’ rechnen zu müssen, deren Schaden disproportional zum anvisierten Gewinn steht, muss für eine Gleichstellung der Partner mit gleichwertigen Waffen votiert werden.

Gnade uns, wenn die USA es geschafft hätten, länger den Status als alleinige Atommacht aufrecht zu erhalten. Nur völlig Naive könnten darin einen Gewinn für die Welt sehen. Dass sie gegenwärtig immer noch die bestgerüstete Armee sind mit den modernsten Waffen, verführt sie ja zu dauernden Kriegszügen, deren Kosten nicht nur die direkten Opfer zahlen. Im Nahen Osten setzt sich das systematisch fort. Wirklichen Einhalt könnte nur eine glaubhafte Abschreckung erzwingen. Solange Israel dort die stärkste Militärmacht darstellt, mit dem Großen Bruder im Hintergrund, wird die Gefahr der Eskalation nicht gebannt, sondern geschürt.

Grass sprach in seiner Gebrauchslyrik, deren literarische Qualität nicht primär interessiert, etwas verhohlen und gewunden von der Kriegsgefahr. Aber er hat, vor allem als Deutscher, dem man die Vergangenheit ankreidet, als ob sie ewig gälte, einen Nerv getroffen. (Wird umgekehrt Israel oder ‘den Juden’ mit alter Vergangenheit, Historie oder Schicksal begegnet, spricht man - zu Recht - von unhaltbarer Fixierung, die aber erstaunlicherweise woanders nicht gilt.) Nicht anders lassen sich die wüsten, bösen, gemeinen Ausfälle der Wächter der Politischen Korrektheit deuten. Wie würden oder werden sie sprechen, wenn nach einem Atomkrieg in Nahost auch weite Teile Europas ‘verstrahlt’ wären oder sein werden? Man kann es sich ausmalen. Die USA weigern sich bis heute ihre Barbarei des Atomkriegs beim Namen zu nennen. Millionen Mitläufer unterstützen sie mit fadenscheinigen Begründungen und beweisen damit Tag für Tag, wie relativ doch unsere Rationalität ist.

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