Plattform für Kriminelle

/ Haimo L. Handl

Auf Facebook wurde wieder einmal zum Mord aufgerufen, zur Lynch’justiz’ an einem 17-Jährigen, der von der Emdener Polizei medienwirksam, öffentlich präsentiert, verhaftet und verdächtigt worden war. Trotz der Floskeln ‘es gilt die Unschuldsvermutung’ gilt sie für viele besorgte Bürger nicht. Sie wollen Taten. Sofort. Weil das Strafsystem so locker sei, wollen sie konkrete Strafen, z. B. die Todesstrafe. Nachdem die in Deutschland (bzw. in der EU) nicht verhängt wird, folgt der Aufruf zur Widerstandstat. Aufrechte Bürger rufen so zum Mord auf, um Recht und Ordnung herzustellen, um ihre Rache zu befriedigen.

Auch wenn der Verdächtige der Schuldige wäre, ist so ein Vorgehen nicht nur barbarisch, sondern völlig unrecht und kriminell. Die Hetzer im ‘Social Web’ wurden bislang nicht belangt. Facebook gibt die Plattform für faschistisches Verhalten, für Hatzen und Jagden. Facebook hilft ‘Schreibtischtätern’ nicht nur für virtuelle Kriminalität, sondern zur Vorbereitung konkreter krimineller Handlungen, nämlich Morde. Auch wenn es nicht zum Mord kam: Die Existenz des Verdächtigen ist zerstört. Die Gesellschaft hat über einen Teil ihrer Mitglieder die böse Fratze gezeigt, die unter dem dünnen Schleier von rechtsstaatlicher Demokratie liegt: Hass, Mordgelüste, freche Missachtung der Privatsphäre, barbarische Hatzaufrufe.

Hier genügen keine nachträglichen Entschuldigungen, keine frommen Mahnworte. Es müssten sofort die Aufrufer aus dem Facebook und anderen Seiten eruiert und vor Gericht gestellt werden. Ich plädiere NICHT dafür, ihre Privatadressen zu veröffentlichen, wie einige es unrechtmäßig mit jener des Verdächtigen gemacht haben. Aber sie sollen ausgeforscht und einem Gerichtsverfahren unterzogen werden. Solche Untaten müssen streng bestraft werden.

Mit den heutigen Mitteln der Datenanalyse ließen sich die Übeltäter relativ einfach ausforschen. Falls Facebook nicht kooperierte und die entsprechenden Daten rausrückte, könnte das Unternehmen belangt werden, seine Dienste suspendiert werden. Gilt die Macht von Privatfirmen, des Mobs oder die des Staates?

Hinsichtlich des unverantwortlichen Vorgehens der Polizei in Emden müssen ebenfalls Untersuchungen vorgenommen werden und, soweit das rechtlich möglich ist, Anklagen und Strafen durchgesetzt werden. Hier spielte die Polizei der Meute in die Hände. Sie ist mitverantwortlich an der Existenzzerstörung eines Unschuldigen, der zum Verdächtigen wurde.

Die Tendenz zur Lynchjustiz greift immer stärker um sich. Als ich einigen besonders eifrigen ‘Aufrechten’ bzw. ‘Korrekten’ kürzlich Fotos von Mordaufrufen zeigte, die als Graffiti öffentlich im Stadtraum zu lesen sind, wurde das abgetan: Ich sähe das zu dramatisch, ich nähme es zu wörtlich. Aber der Aufruf ‘Kill racists’ oder die Forderung nach ‘Entsorgung’ von Nazis spricht doch eine deutliche Sprache. Entsorgung war das industrielle Mittel des KZ-Systems. Wenn es für Neonazis angewendet werden soll, ist es gerechtfertigt? Das ist ungefähr wie jene Rechtsverdrehung, die meint, einem Straftäter sei ‘gleichwertig’ zu antworten. Demnach müsste ein Vergewaltiger vergewaltigt, gefoltert werden, ein Mörder ermordet werden usw. Und die Neonazis oder andere ‘Feinde der Gesellschaft’, hier ein Typ wie Sarrazin, dort ein Arzt der Abtreibungen durchführt, gehören ‘eliminiert’. Die Gewaltbereitschaft wuchs und wächst nicht nur beim Mob, bei Vertretern der Extremen, sondern bei vielen politisch Korrekten, die meinen, dem Recht nach ihrem Verständnis Nachdruck verleihen zu müssen.

Ein Gebildeter versicherte mir in einem Gespräch, dass gewisse Bücher, wie jenes des verhassten Sarrazin, durchaus verbrannt oder entsorgt gehören. Ich kann mir vorstellen, dass, wenn einige Hemmschwellen wegfallen oder Barrieren schwächer werden, diese ‘Rechtsaufassung’ sich mit einigen Eifrigen, die nicht nur im Netz schreiben oder privat sich verbal auslassen, konkret, real, also nicht virtuell, äußert und umsetzt. Die Sprache der Tat, des Gegenterrors als logische Antwort auf den Terror der Feinde einerseits oder Kriminalität andererseits.

Indem ich mich vehement gegen solches Barbarentum wende, gegen jede Anmaßung von Lynchjustiz oder ‘gerechtem Terror’, der mit fadenscheinigen Legitimationen wie ‘wo Unrecht zum Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht’ operiert (fadenscheinig, weil zu simpel Unrecht als Legitimation genommen wird!) und sich damit zu rechtfertigen sucht, heißt das nicht, dass ich zu kritisierendes Verhalten, Korruption oder Kriminalität verteidige. Allein, dass man heute das betonen muss, zeigt schon den Tiefstand unseres gesellschaftlichen Wertverständnisses an.

Freud war bar jeder Illusion bezüglich Kultur und Humanität. Aber er war nicht verzweifelt, sondern realistisch:

‘Man mag es bezweifeln, ob und in welchem Ausmaß ein anderes Kulturmilieu die beiden Eigenschaften menschlicher Massen, die die Führung der menschlichen Angelegenheiten so sehr erschweren, auslöschen kann. Das Experiment ist noch nicht gemacht worden. Wahrscheinlich wird ein gewisser Prozentsatz der Menschheit - in folge krankhafter Anlage oder übergroßer Triebstärke - immer asozial bleiben, aber wenn man es nur zustande bringt, die kulturfeindliche Mehrheit von heute zu einer Minderheit herabzudrücken, hat man sehr viel erreicht, vielleicht alles, was sich erreichen läßt.’ (Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion, 1927)

Man kann den ‘neuen Menschen’ nicht herzaubern, man kann das Paradies nicht verordnen. Wenn wir die niederen Instinkte eindämmen und vor einer Wucherung bewahren, werden wir schon viel erreicht haben, wie Freud, meiner Meinung nach zu Recht, hoffte.