Überwachungsstaat

/ Haimo L. Handl

Jetzt, da das Gesetz zur sogenannten ‘Vorratsdatenspeicherung’ in Kraft tritt, rührt sich nochmals einiger Protest. Reichlich spät. Immerhin war 2006 in der EU die Vorlage dazu von Österreich mitgetragen worden. Nun zu sagen, wir müssten das Gesetz umsetzen, weil wir sonst Strafzahlungen zu gewärtigen hätten, ist nur die halbe Wahrheit, denn Österreich hätte damals schon Widerstand leisten können und müssen; diese infame Richtlinie ist auch in anderen EU-Mitgliedsstaaten umstritten.

Durch die instrumentalisierte Terrorhysterie vermochten aber die Regierungen und die Kommission ein Klima zu erzeugen, in dem die Aufgabe von Grundrechten, die bis anhin als unantastbar galten und als Ausweis der demokratischen Verfasstheit Europas, ein Leichtes war. Der Appell an das Sicherheitsdenken überwog alle Einwände hinsichtlich einiger Grundrechte. Dass diese Argumentation nur möglich war, weil seit längerer Zeit sich ein Wertewandel auch in Europa vollzogen hat bezüglich der Rolle des Staates und seiner Bürger, ist offensichtlich. Der Bürger ist nicht mehr der Souverän, sondern der unter Generalverdacht stehende Untertan, den es permanent zu überwachen gilt, der einer rigiden, strengen Kontrolle unterworfen werden muss, weil von ihm Gefahr droht. Gefahr für wen?

Das vorgeschobene Sicherheitsdenken ist inkonsequent und einseitig. Ginge es den Regierungen um die Sicherheit, würden sie auch ohne solche Überwachungsmöglichkeiten, wie sie das Vorratsdatengesetz schafft, dort, wo spezifischer Verdacht vorliegt, überwacht haben. Zum Beispiel im Finanzwesen, bei den Banken, bei Großunternehmen, im Großkorruptionsbereich. Die Gelder werden ja elektronisch verschoben. Wurde bzw. wird gezielt überwacht? Nein.

In Deutschland haben der Verfassungsschutz und Länderpolizeiorganisationen ein Jahrzehnt lang eine rechtsextreme, neonazistische Terrorgruppe gewähren lassen. Dabei haben Informationen vorgelegen, die eine Überwachung bzw. Ahndung legal gestattet hätten. Mehr noch, die Polizei und der Verfassungsschutz hatten relevante Informationen, nicht zuletzt durch V-Leute, handelten aber nicht entsprechend. Dieses ‘entsprechend’ belegt das politische Problem und nicht das der Datenspeicherung.

In Österreich haben die Justiz und die Polizei enorm an Vertrauen eingebüßt. Nicht wegen der Kriminalitätsrate oder die unterschiedlichen Aufklärungserfolge, sondern wegen Aktionen, die massiv geltendes Recht verletzten. Man erinnere sich nur an die ‘Operation Spring’ oder die staatsterroristischen Aktionen gegen Tierschützer, die als Terroristen verfolgt und verhaftet wurden; etliche Existenzen der später nicht verurteilten ‘Terroristen’ sind vernichtet, viele haben enorme Schulden durch die unrechtmäßige, überzogene Aktion. Gab es Aufklärung darüber? Wurde das befremdliche Zusammenwirken von Unternehmen, Polizei und Justiz in diesem Fall untersucht und öffentlich gemacht? Nein.

Ein schwammiger Terrorparagraph deckt Aktionen, die wir sonst nur aus Filmen kennen, aus diktatorischen Staaten, immer mit dem Hinweis auf die Sicherheit.

Volle Sicherheit ist nur um den Preis der Freiheit zu haben. Das ist es, was das neue Europa will: Sicherheit über alles, das heißt, volle Kontrolle und Überwachung, denn das Menschenbild, das Verständnis vom freien Bürger in einem freien Staat, hat sich geändert: Der Bürger ist verdächtig, er muss generell und dauernd streng überwacht werden. Ein Skandal sondergleichen!

Die Überwachungskultur ist alt. Wir haben uns an viele Auflagen gewöhnt, sehen sie als normal an, obwohl sie empfindliche Eingriffe in die Privatsphäre darstellen. Aber das Private gilt nichts mehr. (Es hat bei uns unter Metternich noch gar nicht existiert, das Polizeiwesen sehr wohl!) Das Polizeidenken gilt.

Wir finden es in Ordnung, dass nicht anonym publiziert werden darf; im Impressum hat genau zu stehen, wer verantwortlich ist, wo gedruckt wurde. Die Tradition der Druckereirazzien ist europäisches Kulturgut. (In den USA wurden die Federalist Papers 1788 anonym publiziert als wichtiger Beitrag zur Installation der Constitution. Dass dieselben USA heute ihre eigenen konstitutionellen Grundsätze verletzten oder aufgaben, beweist die Wandlung in einen Unrechtsstaat.)

Wegen der Gesundheit verordnete die EU Antirauchergesetze. Ginge es den ‘Verantwortlichen’ wirklich um die Gesundheit, würden sie nicht ein Polizeidenken pflegen und ermuntern (viele erfüllen freudig Sheriff-Funktionen und denunzieren, auch in anderen Bereichen!), sondern z. B. die Kennzeichnungspflicht im Lebensmittelbereich verschärfen und ihre Verletzung teuer ahnden. Nichts dergleichen.

Ginge es um Sicherheit, hätte man die Atomkraftwerke nicht gebaut bzw. würde, nach Erfahrung von Tschernobyl und Fukushima, endlich umrüsten. Aber auch ohne diese beiden GAUs müsste schon die ungeklärte Frage der Endlagerung dazu führen, keine Atomkraftwerke zu betreiben. Hier hebelt aber das Energieversorgungsdenken bzw. das Profitinteresse alle Sicherheitsbedenken aus. Hier wird bewusst mit Unsicherheit gewirtschaftet.

Sicherheit ist also ein dehnbarer Begriff. Einmal fordern besorgte Bürger berechtigt mehr Sicherheit, ein anderes Mal beruft sich der Staat auf SEIN Sicherheitsdenken und erweitert Polizeibefugnisse, hebelt alte Grundrechte aus, reduziert den Bürger zum Untertan, zum Überwachungsobjekt.

Dabei beweisen historische Belege die Untauglichkeit solcher Maßnahmen. Die DDR war der bestüberwachte Staat in einer gewachsenen Denunziationskultur. Trotzdem implodierte er. Von den früheren Beispielen Nazideutschlands und seinem Gestapo-Terror oder der Sowjetunion und ihrem kommunistischen Staatsterror (NKWD) ganz zu schweigen. Allen unterlag das Verständnis vom Bürger als Bedrohung, als Gefahr, den es zu überwachen und kontrollieren galt. Die Sicherheitsmaxime führte zu einem schier unfassbaren Staatsterrorismus.

Europa ist ein Bündnis von Polizeistaaten geworden, die, falls keine wesentlichen Änderungen erfolgen, den Staatsterrorismus festigen. Damit wird die Idee freiheitlicher Rechtsstaatlichkeit begraben werden. Noch bestehen geringe Möglichkeiten der Änderung. Ob sie konkret umgesetzt werden können, bleibt allerdings fraglich. Wir leben in unguten Zeiten.

Kafka war ein unpolitischer Mensch. Sein Hauptwerk ‘Der Prozess’ gewann aber gerade wegen seiner Mehrdeutigkeit Gewicht und Einfluss. In der Sowjetunion kursierte er illegal in getippter Version ohne Autorenangabe. Er hatte, wie Efim Etkind in seinem Vortrag und Artikel ‘Franz Kafka in sowjetischer Sicht’ (1978) festhielt, enormen Erfolg, weil er den Sowjetbürgern ihr System spiegelte. Etkind, der von Kafka eine Linie zu Bulgakow zieht, nennt als Hauptmerkmal die Existenz zweier Wirklichkeiten, und führt aus: ‘Diese zweite Wirklichkeit, die bei Kafka und auch bei Bulgakow eine metaphysische Bedeutung hat, ist jedoch auch gesellschaftlich zu verstehen. Bei Bulgakow wird stets deutlich: es handelt sich, schlicht gesprochen, um die Gewalt der allgegenwärtigen Geheimpolizei, deren Ohren alles hören, deren Augen alles sehen, deren Fühler überall eindringen und sich von nichts abhalten lassen.’ Wenn man sich vorstellt, dass diese Allgegenwärtigkeit noch ohne Computer, ohne elektronische Totalüberwachung erfolgte, kann man sich das Ausmaß der gewachsenen Staatsgewalt vorstellen, die uns heute hier in Europa (und in anderen westlichen Ländern) heimsucht und unterdrückt. Noch nie war der Mensch so tief und hoch und breit erfasst, wie heute.

George Orwell versuchte auf andere Weise mit seinem ‘1984’ und dem Horrorbild von ‘Big Brother’ die Totalerfassung und -überwachung darzustellen, ebenfalls lange vor dem Computerzeitalter. Aber der ‘Geist’ dafür hat sich, wie bei den Nazis oder Stalinisten, nicht geändert; in den USA und Europa tritt er nur ‘moderner’ auf. In ‘1984’ werden auch die Rolle der Medien und der Dauerpropaganda beleuchtet und gezeigt, worin sie, in Verbindung mit der eigentümlichen Sprachregelung (heute Ausrichtung nach politischer Korrektheit!) der Newspeak, resultiert.

Vieles, was Literatur war, ist heute Wirklichkeit. Mit einem wesentlichen Unterschied: Den meisten im Westen erscheint die ‘zweite Wirklichkeit’ nicht real, bleibt Schein, weil sie sich ‘in Freiheit’ wähnen. Das bedeutet, dass bei uns die Konvertierung vom Bürger zum Untertan schon weit gegriffen hat.