Die neue Flüchtigkeit

/ Haimo L. Handl

Technologische, leichte Verfügbarkeit erweitert einerseits unsere Sinne, führt andererseits aber auch zu Verkümmerungen und Verarmungen von Fähigkeiten. In dem Maße, wie man sich auf die Technik verlässt, gebraucht man weniger eigenes Denken, eigenes ‘Begreifen’ als direktes, Handhaben: das Werkzeug ersetzt den direkten Zugriff.

Neben der allumfassenden Verfügbarkeit, vor einiger Zeit ‘auf Knopfdruck’, heute auf ein leichtes Wischen und Schieben über die Glasscheibe des smart phones oder den ‘Schirm’ des Tablettcomputers, erstehen Bilder und Töne, kann man, wenn man will, lesen und hören.

Als das Telegramm erfunden worden war, wirkte das auf den Schreibstil in ähnlicher Weise, wie das Telefon, als es zum Volksmedium wurde; es war nicht nur die Technik, sondern auch der ökonomische Aspekt, der zu einem typischen Kurzstil führte. Zeit kostet Geld; dass sie heute so billig sei, stimmt nur vordergründig, weil in vergleichbarer Zeit mit höherer Geschwindigkeit wesentlich umfassendere Mengen an Zeichen (Informationen) transportiert und verarbeitet werden.

Ich erinnere mich noch der Aufgaben des Auswendiglernens in der Schule. Damals verstanden viele von uns das als Mühe oder sogar als Strafe. Der Sinn der Verinnerlichung des auswendig Gelernten leuchtete uns nicht ein. (Interessant, dass diese Verinnerlichung nicht ‘inwendig’, sondern ‘auswendig’ und im Englischen ‘knowing by heart’ heißt.)

Heute hat sich in der Bildungsforschung und -politik bei vielen die Auffassung durchgesetzt, es gehe überhaupt nicht mehr Gehalte und Inhalte, sondern nur um Formen und Strukturen bzw. die Kenntnisse, wo wie rasch die relevante Information bezogen werden könne; es sei lächerlich, so viel Inhaltswissen zu speichern, ein obsoleter Luxus. Man könne ja sofort ‘nachschlagen’, das Netz abrufen. Aber so simpel ist es nicht.

Denn je weniger ich weiß, auch und vor allem Inhalte (Werte, Sinnverständnis komplexer Einheiten), werde ich mir schwertun, relevante Daten zu suchen und zu finden. Ich steigere also meine Abhängigkeit von Hergerichtetem, Vorgedeutetem. Die ‘Digest-Kultur’ gibt es schon lange. Sie entstand vor dem Computerzeitalter. Eine gewisse Schicht war immer dankbar, Vorverdautes, Gefiltertes, Hergerichtetes anstatt des Originalen, Komplexen vorgesetzt zu bekommen. Es schien den Zugang zu erleichtern. Jedenfalls war es leichter konsumierbar.

Wer heute nicht mehr Kopfrechnen kann, stellt das meist gar nicht mehr als Mangel fest; die Maschinen liefern schnell das Ergebnis. Aber manchmal geschehen auch für ‘Experten’ Fehler, weil sie dem Programm zu sehr vertrauen, nämlich dumm; es war sicher keine Ausrede, als die amerikanische Regierung von einem peinlichen Fehler in der Schuldenberechnung berichtete, der in die Milliarden ging. Da die Plausibilitäts- bzw. Wahrscheinlichkeitsprüfung fehlte (der Computer macht alles), war auch den sogenannten Experten vorerst kein Fehler, kein Missverhältnis aufgefallen. Symptomatisch.

Die Netzkultur prägt nicht nur unsere Wahrnehmungsweisen, sondern auch aktives Kommunikationsverhalten, wie bisher alle Medien auf den Mediennutzer Ein- und Auswirkungen hatten und zeigten. In der Kritik geht es auch nicht um eine neue Art von Maschinenstürmerei, sondern um das Bedenken von Auswirkungen, die vielleicht, wie die berühmten ‘Nebenwirkungen’ bei Arzneien, doch beachtenswert wären, wenn man vernünftig sie gebrauchen will.

Mir fällt auf, dass trotz (oder wegen?) bestmöglicher Kommunikationsmittel das Lesevermögen, die Lesekompetenz der Jungen nicht gestiegen ist, sondern im Gegenteil schier verkümmert. Die Aufmerksamkeitsspannen verkürzen sich, die Konzentrationsfähigkeiten nehmen ab. Immer mehr junge Leser vermögen nicht mehr den Sinn eines komplexen Textes zu erfassen. Sie haben offensichtlich gelernt mit hergerichteten Textcorpora umzugehen, nicht aber mit Textgefügen, die komplex sind und mehr als Entziffern verlangen.

Aus Zeitmangel oder Zeitdruck, die als ‘Sachzwänge’ zur Generalentschuldigung taugen, wird nicht mehr gelesen, wie man früher sich einer Lektüre widmete, sondern werden gezielt überschaubare Texteinheiten gesucht und gewählt. Fast alle sind annotiert und kommentiert. Das heißt, das eigene Nachdenken erübrigt sich, weil die Systeme alles liefern: den Stoff, die Deutung, die Bewertung. Schön ökonomisch konsumierbar. Man spart Zeit. Man verlässt sich auf Einführungen und Erklärungen bzw. auf Einführungen zu Einführungen und Erklärungen. Die primäre Welt schrumpft, und es regiert das Sekundäre (ein Phänomen, auf das brillant George Steiner nicht zuletzt in seinem Buch ‘Real Presences’ hinwies).

Die Resultate dieses Kulturverhaltens, früher der Knopfdruck-Kultur, heute der Wisch-Kultur, werden immer offensichtlicher. Ihre Grundlagen aber sind derart tabuisiert, dass sie in die Bildungsdiskussionen nicht einfließen.

Der französische Intellektuelle Paul Valéry, 1945 verstorben, schrieb:

‘Man muß damit rechnen, daß so bedeutsame Neuerungen die ganze Technik der Künste umwandeln, damit auf den schöpferischen Vorgang selbst wirken - so sehr, daß sie vielleicht in erstaunlicher Weise bestimmen könnten, was künftig unter Kunst zu verstehen sein wird. (…) Die Werke werden zu einer Art von Allgegenwärtigkeit gelangen. Auf unseren Anruf hin werden sie überall und zu jeder Zeit gehorsam gegenwärtig sein oder sich neu herstellen. Sie werden nicht mehr nur in sich selber da sein - sie alle werden dort sein, wo ein Jemand ist und ein geeignetes Gerät. Sie werden nur mehr etwas wie Quellen oder Wurzelstöcke sein, und ihre Gaben werden sich ungeschmälert überall einfinden oder neu befinden, wo man sie wird haben wollen. Wie das Wasser, wie das Gas, wie der elektrische Strom von weit her in unseren Wohnungen unsere Bedürfnisse befriedigen, ohne daß wir mehr dafür aufzuwenden hätten als eine so gut wie nicht mehr meßbare Anstrengung, so werden wir mit Hör- und Schaubildern versorgt werden, die auf eine Winzigkeit von Gebärde, fast auf ein bloßen Zeichen hin entstehen und vergehen. Wie wir gewohnt - wenn nicht gar abgerichtet - sind, ins Haus die Energie in verschiedenster Gestalt geliefert zu erhalten, so werden wir es ganz natürlich finden, dort jene sehr geschwinden Wechselbilder oder auch Schwingungen zu bekommen oder in Empfang zu nehmen, aus denen unsere Sinnesorgane, die sie aufnehmen und zu Einheiten zusammenfassen, alles machen, was wir wissen.’

Es geht hier weniger um Valérys prophetische Voraussicht, als um die Einsicht eines Wechselverhältnisses, die dieser Autor noch pflegte, während unsere Experten solche Denkübungen meist unterlassen. Die Leichtigkeit des Habens scheint eine Leichtigkeit des Seins, sie führt aber zu einer Flüchtigkeit, die, wenn nicht kontrolliert, entwertet. Es ist fast wie bei einer Inflation, einer Währungsentwertung: Mehr und mehr Geld ist auf dem Markt, aber man kriegt immer weniger dafür, man muss immer höhere Summen aufwenden, um das Gleiche oder Ähnliches zu erhalten.

Neue Technologien führen nicht per se oder aus sich heraus zu gesteigertem Kulturwissen. Die Bildungsmisere stellt dies eindrücklich unter Beweis. Primär technische Lösungen werden deshalb ebenso versagen wie vordergründig politisch korrekte, die auf eine zielgerichtete Steigerung von Fertigkeiten zielen bzw. erwünschtes Sozialverhalten.