Überalterung

/ Haimo L. Handl

Ähnlich wie der Terminus ‘Bevölkerungsexplosion’ indiziert ‘Überalterung’ ein Negativum, das man noch nicht in den Griff bekommen hat. Jedenfalls konnotiert das ‘über’ ein Ungutes, ein gefährliches Zuviel. Lösung: Bekämpfen, wie wuchernde Krebszellen bekämpft werden, entsorgen.

Es geht nicht primär um einen Jugendkult. Aber doch um die Sorge, dass Alte zu alt werden, zu immensen ‘Kostenträgern’, Kostenverursachern. Sie werden zum Problem, zum Mühlstein am Hals, zum überflüssigen Ballast im Boot. Weg damit. Aber so, dass das humane Bild gewahrt bleibt.

In der Bevölkerungstheorie geistern immer noch die Ideen von Thomas Malthus herum, wird seinen Berechnungen gefolgt, werden gemäß dieser Sicht extreme Katastrofen und Kriege als Korrektive an- und hingenommen, denn die Überbevölkerung führe zu einer Explosion, der Bevölkerungsexplosion, die Vorstufe für den Untergang, die Vernichtung.

Bevor man es soweit kommen lässt, empfehlen sich rigide Geburtenkontrolle, gesteuerte Auslese und Zucht bzw. gezielte Vernichtung. Der Mensch hat nicht ein Grundrecht zu leben. Die Mehrheit entscheidet, wie viele noch kommen dürfen. Das ist ganz natürlich und kultürlich, heißt es.

In den meisten Abhandlungen werden die Lösungsschritte, die Aspekte der Be- und Entsorgung nicht offen genannt. Eufemismen und Metaphern helfen der Verdeckung. Aber das Denkbild liegt klar zugrunde: Viele werden zu alt und dadurch zu Problemfällen. Lästig, kostspielig. Viel zu viele werden gezeugt. Das muss verhindert werden.

Auch in der Literatur scheint das Thema Überalterung immer öfter auf. Meist im Zusammenhang mit bedauernswerten Schicksalen Dementer, Depravierter, Einsamer, Isolierter. Eine Krankengesellschaft. Das Gegenstück dazu, die Betreuungseinrichtungen, die Pflegeproblematik, zeigen die Dimensionen des Dilemmas auf. Immer weniger Junge müssen immer mehr Alte, die ‘unbrauchbar’ geworden sind, erhalten. Weshalb, wofür, wozu? Aus moralischen, ethischen Gründen? Wie lange soll man sich diesen Luxus noch leisten.

Viele Geschichten, oft autobiografisch gefärbt (wie es der ichbezogenen Zeit entspricht), malen das düstere Bild unwerten Lebens, auch wenn sie es nicht so nennen. Noch verdeckt Mitleid oder Humanitätsgefasel den Kern, dass es so nicht weitergehen kann und darf.

Natürlich tritt (derzeit) niemand für Absterbenlassen oder aktive Tötung ein. Aber das Nutzendenken queruliert, stichelt, rechnet. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Rechenresultate sich lautstarker melden…

Es ist kein Zufall, dass gegenwärtig Untergangsszenarien so in Mode sind. Das war am Vorabend der Katastrofe, in der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen nicht anders (viele kennen nur den ‘Untergang des Abendlandes’, zumindest vom Titel her, aber es gibt zahlreiche andere Werke). In der Literatur, in den Kino- und TV-Filmen lässt sich fast wie an einem Barometer oder Seismografen die gesellschaftliche Gemütslage, das Gemenge an kollektiven Ängsten und Wünschen ablesen.

Also überraschen weder die eindrücklichen Katastrofenfilme (Erdbeben, Tsunamis), extremen Horrorfilme, noch die technisch ausgefeilten Fantasyprodukte, die geilen Kriegsfilme, die abscheulichen Filme über Perversionen, Folterungen und dergleichen. Sie runden das Bild ab, das uns regulär geboten wird. Dass zwischen der Dauerbespülung mit Mord und Vernichtung, mit totalem Untergang und der Angsthysterie weiter Teile der Bevölkerung ein Zusammenhang besteht, wird hie und da behauptet, führt aber nicht zu handelnden Reaktionen.

In einer hysterischen, geängstigten, orientierungslosen und gleichzeitig profitgeilen, konsumsüchtigen Gesellschaft können, befürchte ich, eines Tages die trockenen Kostenrechnungen mit den Überalteten und Unnützen, Vielzuvielen, zu Panikaktionen führen. Neu wäre es nicht.