Concrete virtuality

/ Haimo L. Handl

Anlässlich eines Begräbnisses dachte ich über Formen der Trauer nach, die Bedeutung der Trauergemeinschaft, der Rituale, der Gespräche, des Austausches. Und dass es dafür heute virtuelle Angebote im Internet gibt. Nicht nur Gedenkseiten etc., sondern virtuelle Grabpflege, virtuelle Trauergemeinden, virtuellen Austausch.

Es ist wie eine Entkörperung, eine Verflüchtigung, die keine geistige, sondern eine technische ist. Anstatt des Konkreten wird auf das Substitut des Virtuellen gesetzt. Es sei nicht nur leichter, sondern auch schneller und breiter. Als ob es DARAUF ankäme! Es ist, scheint mir, eine weitere Flucht, eine Verdünnung. Eine Enthebung eigener direkter Teilhabe, eigener Verantwortung.

Der virtuelle Raum ist scheinbar. In der Scheinkultur scheint das das non plus ultra. Aber merken die Virtuellen keinen Verlust? Der oder die Verstorbene ist ein Mensch, der real gelebt hat, real starb. Und die Mitmenschen leben real weiter. Da nützt kein Gedusel, keine Ablenkung: Der Tod ist real wie das Leben. Er setzt ihm ein Ende. Die religiösen Überzeugungen hinsichtlich einer Unsterblichkeit stellen alle die tiefst und längst eingeübte Realitätsverweigerung dar. Sie ist so anerkannt, dass sie fast niemandem auffällt.

Jetzt gesellt sich zu dieser Übung die Virtualität. Religiöse Riten wurden bislang konkret im Hier und Jetzt an Ort und Stelle (neudeutsch heißt das ‘vor Ort’) geübt. Die Tröstungen wurden in Gemeinschaft gesucht und gefunden. Die Rituale konkret vollzogen. Wie wirkt der virtuelle Ersatz?

Leichtfertig. Wie Unterhaltungshäppchen, die man sich, fast wie nach einem Diätplan, zu- und abführt. Die Gemeinschaft wird konvertiert, ähnlich der Öffentlichkeit. Es entsteht ein Mischgebilde von Privatöffentlichem, einem Zwitter, der kaum festmachbar ist, mehr verspricht, als er hergibt.

Nach der Beerdigung geht die Trauergemeinde zum Leichenschmaus. Es wird konkret gegessen und getrunken. Eine alte, kluge Übung. Wie wär’s mit virtuellem Mahl? Sind die direkten Begegnungen so belastend, mühsam, dass sie in virtueller, unverbindlicher Form gesucht werden müssen?

Warum verhungern diese Junkies nicht einfach, oder verdursten, da sie sich doch in ihren virtuellen Räumen so smart labsalen können: Virtuelle Drinks, virtuelle Festspeisen, virtueller Austausch. Wenn sie doch konsequent würden und sich virtuell speisten, dann würde der alte Körper, die Natur, sich schon melden. Und wenn sie dann verreckten, würden außer den realen Totengräber, die die Entsorgung durchführen, nur einige Bilder und Filme von früher im Netz sein, die munter vom Leben davor berichten und die virtuelle Gemeinde zur virtuellen Trauer, sozusagen als Webparty, einladen. Schade, dass das noch nicht geschieht, ich würde es den Virtuellen gönnen.

Ich höre, ein Mensch sterbe nicht, sondern schlafe nur. Er sei woanders, wo er es besser habe. Aus Höflichkeit widerspreche ich nicht. Was soll ich missionieren? Die Träume, Trugbilder und Hoffnungen sind jedermanns eigene Sache. Mit dem Internet und den smart phones findet das Transzendentale eine neue Dimension. Jetzt kann die Virtualität früher hereingeholt werden. Eine neue Religion. Ein neuer Unsterblichkeitsglaube. Nichts geht verloren. Im Netz sind auf ewig (na, man sagt halt ewig und meint länger als bis übermorgen) die Daten abrufbar. Jeder kann sich jederzeit, überall, im Auto, auf der Toilette, am Pool, in der Bar, im Klassenzimmer, erinnern, einschalten, zuschalten. Open Access. Und the never ending story. Für alles stehen Applications bereit. Wer sich nicht organisiert ist selbst schuld, von gestern. Und die Gestrigen sterben aus, werden entsorgt. Nicht nur virtuell. Aber virtuell wird Buch geführt, wird festgehalten, wird memoriert, erinnert, gedacht. Was für ein Fortschritt. Fort-Schritt wohin?