Wir sind Schulden

/ Haimo L. Handl

Europa ist verschuldet. Wir haben Schulden. Wir sind in Schulden. Wer ist wir? Welche Schulden? Was haben wir, was sind wir? Wer hat eigentlich Schulden? Wer ist schuld? Wer haftet, ist verantwortlich?

In seinem populären Werk ‘Haben oder Sein’ reflektierte Erich Fromm 1976 sozialanthropologisch, philosophisch die Situation. In einer Art Kulturpessimismus befand er, dass es nötig sei, sich vom Haben-Denken wegzubewegen, hin zu einem Sein-Denken. Ein Appell zur Erkenntnis der wahren Bedürfnisse des Menschen, zum vernünftigen Umgang mit dem ‘Haben’ (Ressourcen, Produktion, Verteilung, Konsum), zur aktiven, verantwortlichen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

Auch wenn das etwas idealistische Modell in der Praxis nirgends über Dauer erfolgreich umsetzbar war, sind die Ideen bedenkenswert. Vielleicht können andere Umsetzungsmöglichkeiten gefunden werden? Gegenwärtig sieht nichts danach aus: Der Krise wird mit Krisen steigernden Lösungsmodellen begegnet, alles bewegt sich innerhalb des brüchig gewordenen Systems, denn um die Schulden zu tilgen, müssen Schulden gemacht werden. Das Problem wird vertieft, kurzfristige Atempausen gelten als Erfolg.

Die einfachen Antworten, wie sie die Leute lieben und ihre Zulieferer, die Massenmedien, erklären nichts, wenig oder vieles falsch. Es gibt keine einfachen Gründe und Erklärungen. Auch keine simplen Lösungen. Wenn bei vielen die Schuldigen primär in den Banken gesehen werden, in den Managern, Börsenmaklern, Spekulanten und Abzockern, so übersieht diese Sicht das Umfeld, die anderen Beteiligten. Es sind nicht nur die Banken oder Politiker. Es sind nicht nur die Manager. Es ist die Gesellschaft, die seit Jahrzehnten einem Modell frönt, das nur auf Pump funktioniert.

Die Aktiva und Passiva sind ungleich verteilt. Trotzdem bilden die vielen, vielen ‘kleinen Leute’ mit ihren Ansprüchen an den Wohlfahrts- oder Sozialstaat einen wichtigen Motor, ein Einflussfeld, dem die Wirtschaft und Politik entspricht. Auch wenn die Profite für die einen wesentlich höher ausfallen als für die Massen, machen es nur die Massen über ihren Konsum möglich.

Dem Zusammenbruch der Versicherungen in den USA ging ein fragnotwendiges Finanzierungsverfahren für die vielen Kunden voraus. Also Kauf- und Konsumverhalten. Dem Bankrott Griechenlands gingen nicht nur mafiotisches Geschäftsgebaren des offiziellen Griechenland voraus, sondern auch eine niedere oder fehlende Steuermoral, ein unbedenklicher Konsum. Man war ja in einem modernen Versorgungsstaat der Europäischen Union! So lassen sich für alle EU-Staaten ähnliche Verhaltens- und Vorgangsweisen ausmachen.

Solange die Blase nicht platzte, konnte man die negative Programmierung übersehen. Alle, fast alle, genossen die win-win Situation. Diese Haltung wurde ja gepredigt und von Experten als Credo hingestellt: Profitsteigerung, Konsumsteigerung, permanentes Wachstum. Alles sei möglich. Leider wurde das ‘Alles’ nie korrekt bedacht. Denn ‘Alles’ beinhaltet auch die Kehrseite. Zu jedem Plus muss es ein Minus geben. Nichts ist nur einseitig. Wir haben nicht nur Tag, sondern auch Nacht. Aber der Lebensstil wurde so ausgerichtet, als ob es nur Gutes gäbe, wobei ‘gut’ im Sinne des Konsums, der ‘Wohltaten’ einer Servicegesellschaft verstanden wurde.

Dies ging einher mit einer Wertewandlung. Leistung und Verantwortung wurden nebulos, verschwommen, verdünnt, inexistent. Das Verständnis, dass man einen input leisten muss für einen output, ging verloren. Man erwartete in immer mehr Bereichen einen output, ohne Gegenleistung.

Was ansteht, ist eine tiefgreifende Systemreform. Nicht nur falsches Sparen oder neues Schuldenmachen, um kurz über die Runden zu kommen. Denn mit unveränderter Haltung zielt alles wieder auf einen Zusammenbruch. Dass der von den ‘Verantwortlichen’ vielleicht doch eher angenommen und angepeilt wird, als eine Systemänderung, hängt mit der ungleichen Verteilung zusammen von Reichtum und Macht. Und Verantwortung. Irgendwer gewinnt. Jeder Krieg hat seine Kriegsgewinnler. So auch unsere gegenwärtigen Krisen.