Eigenwert

/ Haimo L. Handl

Kürzlich fand ich mich in einer intensiven Diskussion um dichterische Sprache, wie von Hölderlin repräsentiert oder auch Hofmannsthal oder Celan, aber auch Kraus. Es ging um die Magie der Sprache, um ihre eigentliche Bedeutung, darum, dass Sprache mehr als Mitteilungswerkzeug sei. Es ging um vom Menschen unabhängige Wahrheit, die wir heute ‘objektive’ nennen, wie sie früher ‘heilig’ oder ‘göttlich’ erhöhend genannt, gefasst wurde.

Ich verneine eine solche Position. Denn sie impliziert ein Absolutes, sie behauptet die Existenz immerwährender, ewiger Wahrheit. Sie hebt die Sprache über sich hinaus, als ob sie dann immer noch Sprache sein könnte. Dahinter verbirgt sich einerseits ein überzogener Purismus, andererseits eine Frömmelei, ein mythisches Denken. Nein, das ist kein Denken, denn Denken ist rationales Handeln, gerade dem Mythischen entgegengesetzt. Man kann wohl vom und über Mythos denken und reden, ihn zum Gegenstand machen, wie Religion für die Wissenschaft zum Objekt wird. Nur Glaube wäre nicht Denken, sondern Einssein mit dem Geglaubten. Das ist dem Denken mit dem Mythos widersetzlich. Denken ist vor oder nach dem Mythos, ist selbst nie mythologisch. Der Mythos ist eine andere Dimension.

Woher rührt die Faszination mit dem Mythologischen, Ursprünglichen, Heiligen, Göttlichen? Was liefert so vielen die Sprache nicht, dass sie als Symbolsystem, als Denk- und Kommunikationsmittel abgewertet wird? Dass manche Sprachphilosophen sogar von der Dürftigkeit der Sprache jammern, Schriftsteller und Literaten sich über das Korsett der Sprache beklagen, das sie gefangen hält? Welche Freiheit ist jenseits des Sprachlichen, der Sprache?

Die Problematik hängt mit dem Bewusstsein zusammen, mit der Ahnung, dass wir mehr fragen können, als zufriedenstellend zu beantworten. Dass viele der Tierheit und eigentümlichen Freiheit der Instinktbindungen nachtrauern, weil sie ihnen eine eigentliche Authentizität zuschreiben, weil sie in der Vernunft den Verrat des Menschen sehen.

Ich vermute, in Krisenzeiten gewinnen nicht nur Kirchen neue Betbrüder und -schwestern, sondern auch Mystiker, Esoteriker, Mythologen. Das Dunkle lockt. Da bieten sich auch alte Theorien der Sprachmagie an. Je unerklärlicher, je dunkler, je schwieriger oder unverständlicher, desto kostbarer. Es MUSS von besonderer Qualität sein!

So lassen sich Renaissancen erklären. Nicht nur Paul Celan, sondern auch Hölderlin. Karl Kraus darf weiter missachtet werden, obwohl er die gleiche sprachmagische Hingabe pflegte, sie aber satirisch in einen anderen Dienst stellte. Das empört heute noch. Das kann man leicht abschreiben. Aber Hofmannsthal, George oder Hölderlin, da beginnen die Gestirne zu leuchten, da schwebt der Geist jenseits aller Deutbarkeit. Endlich der Interpretationslast enthoben sein und zu fühlen, wie in der Musik. Endlich an der heiligen Wahrheit teilhaftig werden dürfen, durch Geraune und Gemurmel, durch Keuchen und Stottern, durch Ergriffenheit und Betroffenheit im sprachlichen Niederschlag, der aber mehr als Sprache ist. Höchstes Stadium, wenn nichts mehr deutbar wird, nichts mehr gesagt wird, wenn die Form gilt, befreit vom Terror der Botschaft.

Ich lese Dichtung oder Literatur nicht sakral. Mich begeistern gewisse Gedichte von Friedrich Hölderlin, auch wenn mir seine Person mit ihren Beschädigungen nicht so nahe kommen kann, mich faszinieren einige Gedichte von Paul Celan, auch wenn mir etliche seiner Persönlichkeitsaspekte, wie ich sie nachlese, unangenehm sind. Ich vermag durchaus Werk und Person zu trennen. Das gilt auch für andere. So bleibt trotz persönlicher politischer Irrungen oder Untaten ein Dichterwort lesbar. So verliert ein Gedicht nicht seinen Wert, wenn der Dichter ein inzestuöser Junky war, ein Betrüger, Kranker oder Irrer oder einfach ein schnöder Dieb und Betrüger. Die Literatur ist voll von solchen Figuren. Aber einige haben Hochwertiges verfasst. Ich sehe sie nicht als göttliche Werkzeuge, als Harfen, in denen Engelshände Gottes Wort zum klingen brachten, auch wenn sie selbst wahnwitzig und anmaßend zugleich dies vermeinten. Ich lese und lese und denke und stelle mir vor. Das reicht aus. Ich sehe die Sprache nicht minder oder erniedrigt, wenn kein Götterodem sie einhüllt und vernebelt.

Trotzdem wische ich die Aussagen über ihre Bemühungen nicht weg. Was Richard Borchardt schrieb, Hofmannsthal und George, was Heidegger räsonierte und sinnierte, was Kafka notierte oder Kleist in Briefen ausbreitete. Aber es ist nicht heilig oder erhaben für mich. Ich kann mich der Streitpositionen erfreuen, kann mich sogar ereifern und Partei ergreifen, wie in einem Spiel. Mit Kraus gegen Heine, mit Heller für Goethe, mit diesem gegen Benn, mit dem andern für ihn. Zu jeder Persönlichkeit und zu jedem Werk finde ich pro und kontra. Faszinierende Inszenierungen sind geistig möglich. Abwägungen. Nicht zuletzt deshalb, weil ich keinem dieser Vertreter, den allerbesten nicht, attestiere, sie hätten DIE Wahrheit, sie hätten DIE Sprache usw.

Der behauptete oder geforderte Eigenwert der Sprache ist ein Unding. Er ist so gering wie der Papierwert einer Banknote. Die Bedeutung, der Wert, liegt woanders. Primär im Vermögen der Abstraktion, neben der Benennungs- und Hinweisfunktion und dem Mitteilungsaspekt auch in der Weltkonstruktion. Denn auch Imaginationen, Visionen, symbolische ‘Probespiele’, Erinnern und Vorausdenken, Zukünftiges ‘ausmalen’, sind Konstruktionen der Welt, für uns in dieser Welt oder einer anderen. Auch Himmel und Höllen sind formulierbar. Aber die Sprache, die das formuliert, ist menschlich. Jeder Gott, den wir in den Mund, in die Sprache nehmen, ist menschlich. Wir könnten ihn sonst weder denken noch sprechen. Ist doch auch tröstlich, nicht?