Der Angriff

/ Haimo L. Handl

Wikileaks lieferte die größte Aufdeckungs- und Enthüllungsaktion der Geschichte. Klar, dass die betroffenen Staaten und Regierungen empört und irritiert reagierten. Der Unterschied zwischen den USA und den EU-Staaten zu Russland oder China ist derweil noch der, dass der als Verbrecher, Gangster, Vergewaltiger, Terrorist und Hochverräter Etikettierte nicht sofort in einem Attentat erledigt wurde, noch nicht in die Schusslinie der aufs ‘gezielte Töten’ spezialisierten Scharfschützen geriet.

Immerhin genügen in China oder Russland weit geringere Aufdeckungen für ein fatales Ergebnis. Das wäre also als Erfolg zu vermelden. Die Affäre deckt aber weit über den eigentlichen Anlass hinaus auf, wie tief undemokratisch, wie kriminell die Staatsmächte mit den Wirtschaftsmächten, die unterschiedlich stark überlappen, ohne Masterplan, unisono, agieren, um IHRE ureigensten Interessen wahrzunehmen und jeden Enthüller eliminieren.

Besorgte Mitmenschen, die sonst als politische Kritiker auftreten, nehmen plötzlich, ohne Auftrag, ohne Druck, ganz freiwillig, enthusiastisch, die Rolle von Anwälten ein, die ‘den Staat’ unterstützen, durch Wikileaks eine Gefährdung des Weltfriedens sehen, das Leben einzelner Personen durch die Enthüllungen als gefährdet betrachten oder sich in sensiblen Überlegungen ergehen, wie diese Art von Aufdeckung eigentlich Voyeurismus sei und zur weiteren Ausspähung und Überwachung führe.

Man stelle sich vor: Hier werden freiwillig aufgesuchte Sozialnetzwerke und ein Aufdeckungsnetzwerk gleichgestellt mit den Zwangsüberwachungseinrichtungen staatlicher Organe! Plötzlich gilt die Staatsräson – was immer darunter verstanden werden kann – ungefragt, unbedingt, das heißt, dogmatisch. Und die Gläubigen schäumen willig und blasen zur Hatz, zur Jagd.

Die extremste Demaskierung unseres verlogenen, nicht rechtsstaatlichen, nicht demokratischen Systems im Westen lieferten allerdings Wirtschaftsbetriebe. Banken und Finanzierungsorganisationen kündigten Wikileaks Verträge, verweigerten Dienste, ohne dass ein Gerichtsverfahren zu einem rechtsgültigen Urteil gelangt wäre. Der freie Markt, durch Staatsinterventionen in den letzten Jahren von der Kehrseite der Freiheit mit Steuergeld bewahrt, um die Umverteilung von unten nach oben weiter zu sichern, beweist wieder einmal, dass er nicht frei ist.

Offensichtlich decken sich die Wirtschaftsinteressen von Mastercard, Visa, Paypal und einigen Banken in der Schweiz und anderen Ländern, von Amazon oder DNS-Providern, derart weit mit denen der US-Regierung oder einigen europäischen Vasallen, dass es keiner eigenen Order bedarf, dass selbständig, unabhängig, frei in Wahrung der eigenen Interessen gehandelt wird.

Die Leichtigkeit und Schnelligkeit, mit der das geht, muss doch den letzten Naivling aufmerken lassen. Hier entblößt die Gesellschaft ihre zynische Fratze und zeigt, wie das echte Geschäft läuft. Denn eines beweisen die individuellen, nicht abgesprochenen, nicht befohlenen Aktionen deutlich: Die Interessen der wichtigen Firmen decken sich mit denen kriegführender Staaten. Sie sind nicht nur passiv Teil des Systems. Sie sind Täter, Gewinnler, Profiteure. (Die anderen, die noch wichtigeren, mussten ja noch gar nicht auf die Bühne treten, die operieren im Hintergrund!).

Eine unfreiwillige Botschaft lautet: Wenn Finanzverkehre derart schnell und leicht dirigierbar sind, weshalb wird die Überwachung von Finanztransaktionen nicht unternommen? Weshalb werden Finanzdienstleistungen für Drogen- oder Mafiageld nicht verweigert? Immerhin bedeuten diese Verschiebungen die höchsten Finanztransaktionen. Weil seit Jahren, trotz technischer Möglichkeiten, nichts unternommen wird, muss sich der Schluss aufdrängen: Sie partizipieren, weil sie daran profitieren, weil sich viele der kriminellen Verschiebungen mit den Interessen der offen systemintegrierten Firmen und Organisationen decken.

Den Bevölkerungen werden strengste Überwachungen zugemutet, umständliche Kontrollen im Alltagsgeschäft. Die wirklich wichtigen Transaktionen laufen ungestört. Dort gilt keine Überwachung, dort gibt es keine Finanzdienstleistungsverweigerung.

Als China gegen Google vorging, schrien viele im freien Westen auf. Jetzt liefern allzu viele den westlichen Firmen, die genauso kriminell vorgehen, Schützenhilfe, jetzt unterstützen viele die Jagd nach dem Aufdecker. Aber worin unterscheidet sich z. B. die Arbeit von Anna Politkowskaja von der des Wikileaks Gründers Julian Assange? Wer Politkowskaia verteidigte, muss jetzt Assange verteidigen! Oder haben die russischen Staatsorgane recht, die in der Journalistin Arbeiten eine Rechtsverletzung sahen? Die zwar offiziell den Mord nicht begrüßen, inoffiziell ihn nicht nur willkommen hinnehmen, sondern höchstwahrscheinlich angeordnet haben?

Dabei geht es weniger um die Person Assange oder um Wikileaks, als vielmehr um die Internetkommunikation. Offensichtlich bedarf es im Westen keiner flächendeckenden Zensur wie in China, um trotzdem unliebsame Seiten zu killen. Das sollten auch jene, die Assange nicht mögen oder Angst vor seinen Enthüllungen haben, bedenken. Seit kurzem ist klar, dass NICHTS frei ist. Wir werden kontrolliert, überwacht, gegängelt, betrogen. Wenn jemand davon etwas aufdeckt, ist er ein Systemfeind.

Wollte man sich einen Boykott der dreckigen Firmen Amazon, Paypal, Mastercard und Visa, um nur einige bekannte zu nennen, überlegen, käme man drauf, dass zumindest bei den Kreditkarten Europa von den USA völlig abhängig ist. Eine prekäre Situation. Man braucht nicht viel Fanatasie um sich ausmalen zu können, bei welchem Anlass die Amerikaner, in Wahrung IHRER nationalen Interessen, aktiv gegen die Europäer vorgehen und Druck entwickeln. Das Beispiel Kreditkarten lässt sich auf andere Bereiche ausdehnen (was in der Öffentlichkeit tabuisiert wird).

Immerhin ging die letzte Weltwirtschaftskrise wieder von den USA aus und wurde von den Vasallen und Geschäftsfreunden, zwar murrend mancherorts, aber doch, aufgefangen. Wir seien alle im selben Boot. Dank Dauerpropaganda und brain washing glauben das auch viele.

Europa, die Europäische Union, sollten sich schon längst von den USA emanzipieren. Besonders auf dem Informations- und Finanzsektor. Aber, falls das wirklich einmal einträte, baute sich das nächste Problem auf: Wenn dann die Verantwortlichen in den EU-Organisationen und nationalen Regierungen so wären, wie sie jetzt sind, würden wir vom Regen in die Traufe gekommen sein. Es sind nicht nur die USA, die das Kernproblem darstellen, es sind die europäischen Kollaborateure, die eine rechtsstaatliche, vernünftige Politik be- und verhindern. Hier decken sich offensichtlich Systeminteressen.