Lehrer schuldig

/ Haimo L. Handl

Der Schulschluss naht und damit das Klagen über vermehrten Stress und negative Abschlüsse. Auch heuer werden wieder viele Schüler es nicht schaffen. Erklärungen tun not. Die leichtesten finden die Eltern und ihre gutmeinenden Vertreter in einem stereotypen Angriff auf das Schulsystem, in einer gewohnten, eingeübten Verurteilung der Lehrerschaft.

In den Verdummungsorganen, also jenen Zeitungen, die zur Perpetuierung der Unbildung beitragen, heißt es lapidar: ‘Sitzenbleiben: Lehrer sind an Fünfern schuld’ (HEUTE 18.06.10). Da wird ein Lernquadratiker zitiert, wonach viele Lehrer überfordert seien, oder ein Jugendkulturforscher der findet, dass es in Wien die meisten bildungsfernen Familien gebe.

Sieht man nicht nur in die Schundblätter, sondern in DIE PRESSE (16. + 18.06.10), kann man lesen, das ‘Drei Viertel der Eltern unfreiwillig ‚Nachhilfelehrer’’ spielen. Die dafür aufgewendete Zeit entspreche 80 Millionen Stunden Freizeit oder 47.000 Vollzeit-Arbeitsplätzen. Interessant. Welchem Gegenwert entspricht überhaupt die Zeitnahme für Kinder? Müssen wir annehmen, dass die meisten Eltern auch unfreiwillig, und deshalb unwillig, Eltern sind? Liegt in dieser Unfreiwilligkeit ein Kern des Problems? Sollte dieser enorme Aufwand nicht besser in profitable Arbeit gepumpt werden? Sagt die Qualitätszeitung doch auch gleich im ersten Absatz: ‘Die Schule ist ein schlechtes Geschäft für die Eltern.’ Fast meinte man, die falsche Zeitung aufgeschlagen zu haben. Das klingt ja echt heutig und österreicherisch. Geht es bei der Schule um’s Geschäft? Um welches?

Man darf sich nicht mehr wundern. Denn auch die Unterrichtsministerin weiß, wovon sie spricht; und sie sagt es klar und deutlich, ebenfalls in der PRESSE auf die Frage ‘Auch heuer werden zehntausende Schüler durchfallen Wie geht es Ihnen damit?’’ Claudia Schmied: ‘Meine Sorge gilt Eltern und Schülern. Es droht das Gefühl des Versagens.’ Aha. Das Gefühl. Vermitteln wir ein anderes Gefühl, dann ist schon ein Teil des Problems behoben, nicht wahr, Frau Schmied? Etwas haben oder nur ein Gefühl davon, ist von wesentlichem Unterschied. So funktionierte jede Täuschung, jeder Betrug bis jetzt: Es wird nicht Freiheit gewährt oder ermöglicht, sondern das Gefühl davon. Ein kleiner, feiner Unterschied, aber ein wesentlicher. Es gibt auch eine Kehrseite dieser Sicht und Aussage. Etwas ist real und konkret kein Versagen, jemand hat leider nur das Gefühl davon. Also müssen wir die Drohung des Gefühls von Versagen verhindern. - Was soll da noch ernsthaft debattiert werden, wenn die oberste Bildungschefin sich dermaßen peinlich demaskiert?

Beide Haltungen, die plump-dumme, wie in der Unterschichtlerpresse geäußert, als auch die der ‘gehobenen Schichten’, zeigen eine Kurzsichtigkeit, eine Realitätsflucht, die bestürzen muss. Niemand von diesen Vertretern und Anwälten, niemand der direkt ‘Beteiligten’ oder ‘Betroffenen’, spricht von Eigenverantwortung. Schülerinnen und Schüler werden generell als nicht verantwortliche Opfer gesehen. Niemand fordert eine Elternverantwortung. Das scheint ein Tabu zu sein. Es werden Sündenbocke gesucht und gefunden. Die Lehrer sind an den Fünfern schuld. Die Schule ist an der Unbildung schuld. Die Eltern und Kinder haben zu unrecht ein ‘Gefühl des Versagens.’ Nehmen wir ihnen doch dieses weg, damit die Ferien wie gewohnt konsumiert werden können…

Würde man tiefer fragen, unerschrocken nach Gründen suchen, käme man auf ein erschreckendes Bild von Inkompetenz und sozialen Missständen: Desolate Familien, kein funktionierendes Familienleben, niedere Bildung oder gar Unbildung, keine Lernmotivation etc. Diese Fänomene sind nicht ethnisch bedingt, sondern sozial. Sie sind auch bei Einheimischen aus der Unterschicht stark zu erkennen. Kindern aus Unterschichtsfamilien werden die Chancen zuerst von ihrem Elternhaus eingeengt, dann erst von anderen Instanzen und Einrichtungen der Gesellschaft.

Es ist nicht nur eine Frage der Finanzen. Es ist eine Frage der Kulturwerte, der Bildung, der Motivation. Diese Aspekte werden durch spezielle Förderungen nicht ‘gelöst’ oder umgekehrt. Der beste Weg zur Änderung ist eine Bildungspolitik, die gemeinsam mit einer vernünftigen Sozialpolitik einhergeht. Etwas, was die frühen Sozialisten, auch gerade in Österreich, einmal verstanden und kurz praktiziert haben. Das ist lange her.

In einer Gesellschaft, wo viele Erfolgreiche beweisen, dass es keiner hohen Bildung bedarf, um ‘gut im Geschäft’ zu sein, um oberste Posten zu bekleiden (von Vorstandsmitgliedern, Aufsichtsräten bis zu Parlamentariern oder Regierungsmitgliedern!), ja, dass eine Portion Niedrigkeit oft sogar erfolgsfördernd ist (man denke an das Abtun des Plagiatsfalles des früheren Wissenschaftsministers Hahn), kann man doch nicht ernsthaft erwarten, dass einem Versagen vernünftig begegnet wird. Da reicht es, das ‘Gefühl des Versagens’ wegzuschieben. Da helfen dann auch Coaches und Psychologen dabei. Eine Verlogenheit sondergleichen!

Schier alles im Business giert danach, den Konsumenten einzutrichtern, dass alles möglichst leicht und möglichst schnell zu haben sei. Arbeit, Mühe, Aufwand? Vielleicht dort noch, wo die konkrete Messung die Leistung ausweist und sofort belohnt, im Sport. Sonst kaum mehr. Konzentrationsschwäche, Motivationsschwäche, Lernschwäche? Die Lehrer sind schuld. Denkschwäche? Die Lehrer sind schuld. Machen’s wir doch einfacher. Mehr Spaß. Mehr Animation. Vermitteln wir doch andere Gefühle. Die propagierte und praktizierte Gefühlskultur dieser Art ist ein Betrug, eine Täuschung. Die Gefühlskultur, die als eine Art bornierter Gesinnungskultur ihr Unwesen treibt, wird aber nicht nur oktroyiert, sondern willig gepflegt und verlangt. Den meisten Eltern wäre es peinlich, sich hinsichtlich ihrer Qualitäten als Eltern zu befragen. Das darf nicht zur Debatte stehen.

Da klingen Sätze vom schlechten Geschäft, das die Schule für die armen Eltern sei, vom drohenden Gefühl des Versagens, das man den Opfern nehmen müsse, angenehmer. Sie entlasten. Sie schmeicheln in einem falschen Bedauern den falschen Opfern. Das heißt nicht, dass das Bildungssystem gut sei bzw. seine Schulen. Es heißt nur, dass diesen stereotypen und vorurteilenden Ausweichungen etwas entgegensetzt wird. Z. B. die Aufforderung, anstatt jammernd auf Sündenböcke einzuschlagen, die Problematik realistisch anzusehen und konkrete Konsequenzen zu ziehen.

Wie es scheint, wird es für die Mehrheit nicht dazu kommen. Mit heftiger Hilfe seitens der Medien, vieler Experten und Politiker.