Kritikaster

/ Haimo L. Handl

Es gibt immer weniger Kritiker, weil die positive Tradition der Kritik abstirbt, verloren geht. Kritiker sind Beurteiler, Vermittler. Sie kommentieren mit ihrer Kritik ein Werk, erhellen damit, weisen zusammenfassend oder hervorhebend auf Besonderes, ergänzen. Das bedingt Denkarbeit.

Arbeit kostet Zeit und Geld. Die Arbeitsresultate, die Kritiken, bedürfen, je gehaltvoller (wissender) sie sind, ebenfalls bestimmter Kenntnisse, damit sie verstanden werden können. Da in unserer Gesellschaft das Bildungsniveau abnahm und weiter abnimmt, die gängige, bequeme Konsumhaltung Arbeit als Aufwand scheut, wenn sie nicht sofort sich ‘lohnt’, also als profitabel sich erweist, wird wenig gedacht, bedacht, überlegt. Das Einlassen auf Kritik forderte meist mehr Arbeit, als der Konsum des primären Werks. Das ist nicht en vogue. Im Zeitalter der instant communication will man sich mit kleinen Häppchen, Gezwitscher, möglichst schnell geliefert, zufrieden geben. Ersteindrücke sind meist ‘aus dem Bauch’. In unserer pseudogefühlsbetonten Zeit rangiert Gefühl bzw. das, was dafür gehalten wird, authentischer als rationales Denken.

Denken verbindet sich mit Reflektieren. Das heißt, einem Zurücktreten, einem Beschauen, Nachdenken und neu in Gedanken Fassen. Das kann nicht spontan erfolgen. Spontaneität und Reflexion sind entgegengesetzt. In unserer action time gilt aber das vermeintlich Spontane als das Authentische, Primäre. Das wirkt sich auf das intellektuelle Leben aus, auf die Bildung und - auf die Kritik.

Kritiker waren immer nur bei wenigen bliebt. Nicht nur die Massen verabscheuten sie, sondern, aus anderen Gründen, auch die meisten Mächtigen. Im Grimmschen Wörterbuch wird die Schmähung ‘Kritikaster’ wie folgt definiert: ‘afterkritiker, kleiner eingebildeter kritiker, gebildet wie poetaster, dichterling’. Das kommt beiden Ablehnungen entgegen. Leicht kann man einen Kritiker als Kritikaster abtun, wie man einen whistle blower als Querulanten denunziert und damit ‘erledigt’ (Karl Kraus traf beides).

Kritiker und ihre Kritiken waren, richtig verstanden, nie sakrosankt. Die Widerrede, die kritische Opposition ist jedoch von anderer, eben argumentativer Qualität, als die ‘gefühlsmäßige’, tumbe Ablehnung und Abwertung.

‘In der bestialischen Wut des Braunhemds über den Kritikaster lebt nicht bloß Neid auf die Kultur, gegen die er dumpf aufbegehrt, weil sie ihn ausschließt; nicht bloß das Ressentiment gegen den, welcher das Negative aussprechen darf, das man selber verdrängen muß.’ ‘Sie [die Faschisten] fühlten sich als Ärzte der Kultur und entfernten aus ihr den Stachel der Kritik. Damit haben sie sie nicht nur zum Offiziellen erniedrigt, sondern obendrein verkannt, wie sehr Kritik und Kultur zum Guten und Schlechten verflochten sind. Wahr ist Kultur bloß als implizit- kritische, und der Geist, der daran vergaß, rächt sich in den Kritikern, die er züchtet, an sich selber. Kritik ist ein unabdingbares Element der in sich widerspruchsvollen Kultur, bei aller Unwahrheit doch wieder so wahr wie die Kultur unwahr. Kritik tut unrecht nicht, sofern sie auflöst - das wäre noch das Beste an ihr -, sondern sofern sie durchs Nichtparieren pariert.’ (Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft)

Dass es immer weniger gehaltvolle, ernst zu nehmende Kritik gibt, liegt nicht nur an der oft prekären Finanzlage der Medien. Es liegt vor allem an der falschen Selbstzufriedenheit kurzdenkender Konsumenten bzw. an der ideologischen Borniertheit jener, die als Halbgebildete gegenüber den Ungebildeten den Ton angeben, aber mit diesen gegen die Intellektuellen sich eins wissen in ihrer Abwertung. Es ist die im Kern kulturfeindliche Haltung einer blöd permissiven Gesellschaft, die keine kritische Auseinandersetzung sucht, höchstens toleriert. (Hier ist immer noch auf die Kulturtheorie Freuds zu verweisen, den Zusammenhang von Triebverzicht und Kulturleistung.)

Was tun? Fortlaufende Forderungen stellen, auch wenn sie als anmaßend bei vielen gelten mögen. Mehr an- und einfordern. Herausfordern. Sich mit dem Leeren oder Halben nicht zufrieden geben, auch wenn es sich besser verkaufen und konsumieren lässt. Also die Logik und Mechanismen des Marktes nicht zu den primären des Geistes und der Kultur machen.