Das Mutmassliche

/ Haimo L. Handl

Dauernd dürfen wir in unseren Medien lesen, sehen und hören, dass jemand etwas getan habe, aber nur mutmasslich, auch wenn die Folgen der Tat(en) konkret und real sind und keine Frage vorsichtiger Mutmassung.

‘Täter begeht Selbstmord. Ein Amokläufer schießt in einem finnischen Supermarkt wild um sich. Dabei kommen mehrere Menschen ums Leben. Der mutmaßliche Täter hat sich offenbar danach selbst hingerichtet.’ (Frankfurter Rundschau 31.12.09)

Einerseits Täter, andererseits alles nur mutmasslich. Und ‘offenbar’ hat er sich selbst umgebracht. Also besteht die Möglichkeit, weil nichts offenbar oder gesichert ist, dass er keinen Amoklauf lief, niemanden tötete und von jemand Unbekanntem getötet wurde.

Mutmasslich reduziert und schwächt eine Aussage: sie bezieht sich auf Ungewisses. Wenn eine Tat, die bezeugt wird, dennoch von den Zeugen nicht als Tat, sondern nur als mutmassliche genannt werden darf, zwingt man den Zeugen zur Lüge, wertet die Zeugenschaft ab.

Wenn ich sehe, wie jemand jemanden tötet, ist meine Aussage, jemand habe getötet korrekt und die Aussage, jemand habe mutmasslich getötet falsch. Die politische Korrektheit und perverse Rechtsauslegung im Sinne eines Täterschutzes erzieht zur Lüge, beugt die Wahrnehmungswiedergabe: ich darf nicht sagen, was ich sah, ich muss, im Sinne der Gesetze und der politischen Moral, es anders nennen, auch wenn es anders war.

Konsequenterweise müsste obige Meldung also lauten: Mutmasslicher Täter begeht mutmasslich Selbstmord. Ein mutmasslicher Amokläufer schiesst wild um sich. Dabei kommen mutmasslich mehrere Menschen ums Leben. Nur der letzte Satz des obigen Absatzes ist korrekt. Inkonsequenz!

Wo liegt da der Unterschied zu den haarspalterischen, winkeladvokatischen Behauptungen, wir hätten keine eindeutigen Beweise, dass die mutmasslichen Nazis mutmasslich Gaskammern betrieben, in denen die mutmasslichen jüdischen Opfer mutmasslich vergast wurden?

Oder wenn jemand seine Zweifel, Skepsis oder Ignoranz damit legitimiert, dass er kein Experte sei und deshalb nur mutmassend die Berichte über Mutmassliches, soweit es nicht gerichtlich anerkannt oder bestätigt wurde, zur Kenntnis nehme etc. Aber in manchen Fällen vielleicht auch das Gerichtsurteil nicht akzeptiert, weil es für die eigene Interpretation keinen Zwang geben kann in freien Gesellschaften, z. B. für Aussagen zur Geschichte und dergleichen.

Wenn jemand eine Demonstration in Moskau filmt und dabei prügelnde Sicherheitskräfte aufnimmt und dann das Video um die Welt schickt, ist er ein Straftäter, wenn er dabei sagt, Polizisten, Angehörige einer Sondereingreiftruppe oder schlicht ‘russische Sicherheitskräfte’ hätten geprügelt. Denn es war nur in seiner Sicht so, es war also mutmasslich. Vielleicht waren es nicht Russen? Verkleidete Gangster, um die russischen Behörden in schlechtes Licht zu rücken? Vielleicht waren die Demonstranten Agenten, verkappte Terroristen? Das gilt eigentlich überall. Wenn die Israeli Defense Forces, die Verteidigungsarmee Israels Zivilisten tötet, sind die Handlungen nur mutmasslich, bis das zuständige israelische Gericht die Taten bestätigt und korrekt deutet. Kein Bei- oder Aussenstehender kann über das Mutmassliche hinaus etwas Korrektes sagen. Darf es nicht! Und das ist nicht nur dort oder in China, im Sudan oder Iran, in Libyen oder Myanmar, in der Türkei oder Spanien, sondern auch in England, Frankreich, Deutschland oder Österreich. Man darf eigentlich nichts mehr direkt behaupten. Es herrscht noch eine Grauzone, aber bald wird die politisch korrekte Denk- und Redeweise überall internalisiert sein und vorherrschen.

Auch Aussagen über die nahe und nächste Zukunft könnten von Korrekten als blosse Mutmassungen abgetan werden und in gewünschten Fällen als Betrug oder Täuschung rechtlich verfolgt werden. Wer hat Beweise, dass der morgige Tag sein wird, gar der Übermorgige? Also sind Prognosen immer nur mutmasslich. Just dort arbeitet aber die Wirtschaft und der Staat nicht mit den permanenten Einschränkungen, sondern gibt sich, wie die Priester gewiss, als ob sie ein Absolutes kennten.

Wenn jeder Schritt, den wir tätigen, jede Erwartung, die wir meinen pflegen zu dürfen, korrekt als nur wahrscheinlich oder als wahrscheinlich unter Annahme des Fortgangs unter den bekannten Bedingungen formulieren, könnten wir uns bald kaum mehr verständigen, denn immer müssten Floskeln, die früher schon den Verkehr beschränkten und behinderten, uns einengen und belasten, je nach Religionsübung und –terror oder quasi-esoterischem Aberglauben: so Gott will, falls die Welt nicht untergeht (oder untergegangen sein wird), wenn Allah gnädig bleibt, wenn irgend ein Geist uns nicht vernichtet, wenn kein Erdbeben uns verschluckt, wenn nicht die Sintflut uns wie bei einem Supertsunami wegschwemmt usw.

Aber solch inflationäre Einschränkungen würden nicht die Sensibilität steigern und das Wissen um die Endlichkeit allen Lebens erhöhen, sondern abstumpfen, wie es alle Floskeln tun.

Im Zuge einer Art Resakralisierung und einer falschen Hochwertung von Religionen und ihren Kirchen oder Organisationen, der Impertinenz von sogenannten Gläubigen und ihren unverschämten Ansprüchen gegen Ungläubige vergiftet sich der Rest an aufgeklärtem Denken. Im fortgesetzten Werteverfall dienen dann so vordergründige Korrektheiten ähnlich wie die Sophismen der Scholastik, die Formeln der Sklavensprache in rigiden Terrorregimes, von denen uns die Geschichte so dramatisch berichtet.

Deshalb ist es möglich, dass Journalisten als Kriegsberichterstatter nicht mitteilen, was sie sehen und hören, sondern was sie korrekt davon in eine gewisse Sprache übersetzen dürfen. Eufemismen, Übernahme genormter Begriffe, Etiketten, Metaphern sind gängig, und Abweichler werden als Lügner geziehen oder es kommt gar zur Anklage wegen eigenständiger, nicht approbierter Behauptungen.

In diesem Klima der Angst und Übervorsicht, wie es die politisch korrekte Gesellschaft zeichnet, benachbart zur weniger komplexen Angst in offen diktatorischen Regimes wie im Iran, in Russland oder China, wird die Meinungsfreiheit beschränkt, auf den Kopf gestellt, weil das Regime der Deuter, in Wahrung seiner Deutungshoheit, jeden anderen Gedanken und seinen Ausdruck ahndet.

Über die politisch Korrekten haben wir einen Rückfall erfahren, der hurtig ausgebaut wird, im Namen von Recht und Ordnung und Freiheit.