Arbeit macht frei gestohlen

/ Haimo L. Handl

Unbekannte Diebe haben den Schriftzug ‘Arbeit macht frei’ über dem Eingang zum Stammlager des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz gestohlen. Die Peinlichkeit wurde von vielen als Schändung der historischen Gedenkstätte erklärt, ja gar als Entweihung.

Unwillkürlich fragt sich der Nichteingeweihte, wie denn eine barbarische Vernichtungsstätte eine geweihte sein könne, welche Perversion als Umdrehung und Umkehrung hier wirkte und wirkt, dass die Tötungsstätte entweiht werden könnte. Die Weihe bezieht sich auf das Gedenken. Aber sie klebt offensichtlich an Dingen, an Spuren. Folgt man diesem queren Denken, müsste man eigentlich, um die Weihe so direkt und konkret wie möglich zu haben, KZs einrichten: denn dann forderten nicht nur Spuren und zu Symbolen geronnene Objekte zur Weihe, zum weihevollen Gedenken, zum Opferkult, zum quasireligiösen Ersatz, sondern böten Direktes: das Schauderbare in Aktion, konkretes Ereignis einer geilen Erlebnis-Spass-Gesellschaft.

Will man nicht so weit gehen, böten sich vielleicht KZ-Passionsspiele an, wo Kleinbürger sich das Gruseln politisch korrekt holen dürfen, ähnlich den amerikanischen Holocaust-Erlebnisparks, Man könnte, gleich wie die vielerorts blöd-dumm veranstalteten Schlachtszenarien als touristisch-historische Kriegsspiele, den KZ-Alltag von radikalen Theaterregisseuren wiederbeleben, ‘nach- oder vorspielen’, damit die ehemalige Schändung, nun ins Kunsterlebniswerk erhöht, seine Weihe findet und jeder, gegen ein angemessenes Eintrittsgeld, seine Lehre daraus zu ziehen vermag, korrekt und lauter, geweiht, in der geweihten Gedenkstätte. Das schaffte Arbeitsplätze. –

Hätten die Alliierten dem Flehen und Drängen damals nachgegeben, wären einige KZ durch Bombardements ausgelöscht worden. Dann gäbe es vielleicht keine Reste mehr davon, auch kein Eingangstor, keinen Schriftzug. Es war nicht dazu gekommen, weil niemand diese industrielle Tötung wirklich hemmen wollte. Militärisch wäre es möglich gewesen. Wurde das Naziverbrechen geduldet und unterstützt, damit man später die wichtigen Objekte, Embleme und Symbole haben würde für die Umwandlung in eine Weihestätte, eine umgekehrte Walhalla, zum ewigen Gedenken und zum geweihten Stachel: Nie vergessen? Das wären Spekulationen. Aber sie liegen näher als das heutige Geschrei von Entweihung und Schändung. Schändung der Schändung! Zweimal Negativ, hier nicht positiv? Nein, hier gilt offenbar eine andere Logik. Das Nichtbombardieren der KZ wird verschieden erklärt. Es ist aber nicht eindeutig geklärt, denn es betrifft die Sieger.

Dass der Diebstahl des Schriftzugs, der von vielen Zeitungen als Diebstahl einer Tafel bezeichnet wird, obwohl es keine Tafel ist, zu solch extremen Äusserungen führt, zeigt Abgründe, die wohl tiefer reichen als die der Diebe.

Würde jede historische Vernichtungsstätte geweiht werden müssen oder geweiht sein, dürfte nirgendwo ein neuer Aufbau erfolgen, müssten überall die Spuren bewahrt werden. Die Menschen in Hiroshima und Nagasaki haben sich schuldig gemacht, zweimal, weil sie die Städte wieder aufbauten, weil sie nur ganz wenige Objekte als Mahnmale übrig liessen. Sie entweihen tagtäglich durch ihr Leben die Stätte des Todes. Viva la muerte!

Es gibt schier keinen Ausweg. Die permanente Konfrontation mit dem Leid, dem Schmerz bzw. mit den Bildern und Symbolen davon, stumpft ab. Man gewöhnt sich daran, wie man sich an alles gewöhnt. Die Kreuzigung wurde für Milliarden von Menschen nicht zum Schreckbild, sondern zum liebevollen Schmuck, zum Siegeszeichen, zur Hoffnung. Viva la muerte! Sie hängen halt die Auferstehung dran. Soll man das den KZ-Opfern, den anderen Kriegsopfern nachrufen? Ihr werdet eh auferstehen. Was also? Dafür halten wir die Ruinen, die Öfen, die Folterbänke, die Tränken, die Massengräber, die Galgen, die Bombentrichter, fein säuberlich, mit baurechtlich ordentlichen Sicherungsmassnahmen zum historisch-moralischen Massentourismus fürs Erlebnisgedenken intakt. Die prunkvollen Kirchen zeigen das Kreuz, den gemarterten Körper, aber da sich alles um den Geist dreht, schmerzt nichts mehr. Und wenn es sich nicht um den Geist drehte, schmerzte der Körper auch nicht mehr, weil man sich daran gewöhnt hätte, weil es eingebettet ist ins Leben.

Warum suchen so viele die Vergangenheit, wollen den Schmerz, die Schmach, die Schande erinnern, erfühlen, sich vorstellen, gar wiedervergegenwärtigen, und sind zugleich, in ihrem jetzigen Leben, Erleben, in ihrer Gegenwärtigkeit stumpf und blind gegen die Gewalt, die Ausbeutung, den Schmerz, die Schande, die Schmach, die tagtäglich und nachtnächtlich überall geübt, ausgeführt, exekutiert wird? Weil keine Schandmale deutlich davon künden? Weil die aktuellen Kriegsstätten nicht geweiht sind? Weil das Gegenwärtige als Nahes so weit weg ist?