Falsches Vergessen

/ Haimo L. Handl

1989 ist ein besonderes Gedenkjahr mit vielen Anlässen, derer viele gerade nicht gedenken wollen oder sich ganz anders erinnern als wieder viele Andere. 60 Jahre Volksrepublik China, aber nicht 20 Jahre Massaker auf dem Tiananmen-Platz. Der Zerfall des Ostblocks und eine Welle von Staatswerdungen oder, als wichtigstes europäisches Ereignis, die Wiedervereinigung von Deutschland. In fast allen beteiligten Oststaaten erfolgt die Auflösung unblutig, ausser in Rumänien, wo im Dezember die Revolte mit der überschnellen Hinrichtung des Diktatorenehepaares Ceausescu den Höhepunkt erreicht.

Im Februar ruft Ruholla Chomneini mit der Fatwa zum Mord an Salman Rushdie auf. Dieser barbarische Akt wird nur halbherzig und verbal im Westen beeinsprucht. Die Islamisten, die radikalen, sind so erstarkt, dass gewisse Grundwerte im Westen relativiert werden um des unguten Friedens Willen, das heisst, wegen der Geschäfte, oder ganz simpel aus purer Angst vor den Mördern.

Der Zerfall des Ostens wirkt sich auch auf Jugoslawien aus, das langsam zu zerbrechen beginnt durch Loslösung einzelner Teilrepubliken, was wenige Jahre später zum ersten Krieg im Nachkriegseuropa wird (Slowenien 1991, Bosnien 1992-1995, Kosovo 1999) mit grausigen Kriegsverbrechen und rassistischen Massnahmen, die zynisch ‘ethnische Säuberungen’ genannt werden.

In Deutschland beklagen viele ‘Ossies’ den Verlust ihrer teuren Republik und schwelgen in Verklärungen und Mythologisierungen, die ganz dem Muster der früher schon einmal bemühten Dolchstosslegende folgen. Die DDR war nicht Hitlerdeutschland, sondern der erklärte antifaschistische Staat. Also darf man ihr nachweinen. Wenn man weiss und bedenkt, wie böse, gemein, hinterfotzig, kalt zynisch, dieser Staat seine Bürger überwachte, ausspielte, niederhielt, verfolgte, kann man ermessen, welche Beschädigungen jene haben müssen, die immer noch dieses Regime hochhalten. Es ist offensichtlich nur eine Frage der Position oder des Auskommens.

Während ein Teil der DDR-Intelligenz sich offen in Geschichtsklitterei äussert, nicht zuletzt über die Zeitung ‘Junge Welt’, folgen andere nostalgisch dem Bild vom antikapitalistischen Land. Margot Honecker, in Chile im Exil lebend, äussert sich unumwunden klar. Stolz hält sie, wie in einer kürzlichen Sendung zu erfahren war, fest, dass die Hälfte der Ostdeutschen sagen ‘Wir leben schlechter im Kapitalismus. Wir haben eine schöne Zeit gelebt in unserer DDR. Und sie können machen, was sie wollen: Es ist nicht totzukriegen, sondern mehr und mehr und mehr besinnen sich die Menschen darauf, was sie gehabt haben in der Deutschen Demokratischen Republik.’ Gespenstisch.

Wesentlich drastischer und tiefgehender sind die Realitätsleugnungen und -umkehrungen in Serbien und einigen ehemaligen Teilrepubliken. Die meisten Serben, vor allem in der tonangebenden Schicht, sehen sich als Opfer. Gräueltaten werden geleugnet oder als ‘normal’ hingestellt, realpolitische Handlungen, wie sie in jedem Krieg erfolgen. Die Ethnopolitik, die im Westen von etlichen Gutmenschlern, besonders den rosaroten oder grünen, gutgeheissen und verteidigt wird, führte in Jugoslawien zu den infamen ‘ethnischen Säuberungen’, die ganz blutig-sauber erfolgten. Während man im Westen das natürlich nicht meint, führt die Unklarheit von Ethnopolitik als rassistischer dazu, dass gerade Antirassisten sie begrüssen. Pervers. In Jugoslawien wurde, wie in einem Waschvorgang, das Waschmittel ‘Massaker’ zur ethnischen Säuberung gewählt. Das muss heute, vor allem, weil es nicht überall zum nachhaltigen Erfolg führte, umgetauft werden. Die Serben bemühen sich mehrheitlich um die Festigung der Lügen. Sie sind Opfer, nicht Täter.

Herr Karadzic weigert sich dem Prozess, der ihm in Den Haag gemacht wird, beizuwohnen, während, als Resultat eines üblen Geschäfts, seine Nachfolgerin, Frau Biljana Plavsic, schon nach Verbüssen von nur sieben Jahren der elfjährigen Haftstrafe in Schweden, freigelassen wurde. ‘Heimgekehrt’ aus den Fängen der westlichen Barbaren wurde sie als Heldin gefeiert, daheim, in Ex-Jugoslawien, in Beograd und vor allem in Banja Luka, in der Republika Srpska. Der Affront gegen die Bosnier, in dessen Staat dieser eigene Staat als Stachel schwärt und schmerzt, wird nicht nur hingenommen, sondern begrüsst und gefördert. Die Botschaft ist klar: Es gibt keine Schuld, es braucht keine Sühne. Wer anders denkt, schwächt die Gemeinschaft, die Nation. Ist Feind.

Und das in einem Europa, das von ‘Niemals vergessen’ faselt, von ‘aus der Geschichte lernen’ und andere Devisen, die, inflationär geworden, von fast niemandem mehr bedacht, sondern nur nachgeplappert werden.

Im Mai 1989 war Slobodan Milosevic Staatspräsident von Serbien geworden. Seine extrem nationalistische Politik hat den Untergang Jugoslawiens eingeleitet. Heute sehen viele, nicht nur In Serbien, den Westen als Grund dafür und spielen die Kriegsverbrechen herunter oder schieben sie der anderen Seite zu.

Im Juni 1989 schlug die chinesische Armee brutal und blutig die Proteste nieder. Die harte Haltung gegen die ‘Aufrührer’ wird von vielen vielerorts als Voraussetzung für den erfolgreichen Weg der Modernisierung Chinas gesehen. Kritik von aussen wird zahm gehalten, um nicht geschäftsstörend zu sein. Es gibt keine Universalwerte, für die Gegenwart zumindest nicht.

Erinnern und vergessen. Das hat nicht unbedingt mit Schuldzuschreibung oder Abrechnung zu tun. Aber die Angst davor führt zu queren, befremdlichen Haltungen. Im Falle des Nazismus und des Holocaust kennen wir die Fänomene. Für die Ereignisse Jahrzehnte später fehlt vielen von uns die Courage, die gleiche Logik, das gleiche Verhalten kritischen Urteils anzuwenden. Denn da könnte man ja ‘betroffen’ sein, tangiert werden, Nachteile erfahren. Oder, man ist im anderen Lager und will Vorteile halten.