Alte Werte vs. obsolete

/ Haimo L. Handl

Die meisten Menschen sind religiös. Sie folgen alten, ganz alten Ideen, die sie, als religiöse, nicht als Ideen ansehen, sondern als Höheres, ohne wissen oder gar belegen zu können, was denn über Ideen (Gedanken, Denken) hinaus gedacht, geglaubt, gewusst werden könnte. Im Glauben spielt Alter keine negative Rolle, weil nie kritisch gedacht wird, werden darf. Anders im übrigen Kulturbereich, ganz anders in der Wissenschaft. Hier wird kritisch die Tauglichkeit bedacht: was passt (noch), was stimmt noch, entsprechend dem Stand des Wissens (im umfassenden Sinne verstanden). Im Glauben gibt es Sicherheit und keinen Irrtum. In der Wissenschaft gibt es Irrtum und prüfende, zweifelnde Fragen.

Vor wenigen Tagen, am 28. August, durften wir des 260. Geburtstages von Johann Wolfgang von Goethe gedenken, einem sogenannten Klassiker, Dichterfürsten und Olympier. Eine herausragende Persönlichkeit, die trotz einiger Widersprüche und manchmal befremdlichen Verhaltens, eine Position sich erarbeitete und sich in vielfältige, unterschiedliche Arbeitsbereiche stürzte, wie kaum jemand neben oder nach ihm.

Neben all der Vereinnahmung durch falsche Philister und Spiesser, durch Deutschnationale und andere Gevölks- oder Parteienvertreter, gab as nach dem Krieg, dem grossen Zweiten Weltkrieg, eine Art Ernüchterung, die zugleich den Grad der Schädigung anzeigte: Namhafte Vertreter des Geistesleben, wie es ruiniert in der auch geistigen Trümmerlandschaft sich wieder sammelte, schworen Goethe und seinem Denken ab, als ob es ähnlich negativer Herkunft sei, als all das Gift der braunen Bande und ihrer ach so gebildeten Kulturmenschen, die als Masse und Horde willig die Inhumanisierung ihres Daseins betrieb und sogar nach dem totalen Zusammenbruch nichts wirklich wusste, wie sie auch vorher nicht gewusst hatte, wissen hat wollen.

Just ein Psychiater und Filosof, der bekannte Existentialist Karl Jaspers, dem 1947 der Goethepreis verliehen worden war, welchen er annahm, sprach in seiner Dankesrede höchst negativ über Goethe und die Unmöglichkeit, seine Werte heute weiter zu schätzen. Der Preis wurde und wird in Anerkenntnis schöpferischen Wirkens im Sinne Goethes Andenken verliehen. Der Preisträger spricht sich gerade gegen den Kern dessen aus, nimmt den Preis aber an. Ein deutsches Kulturwunder, besonders nach dem Krieg. Wie lautete das Argument des Filosofen:

‘Es gibt eine Empörung gegen das, was man wohl die harmonische Grundauffassung Goethes nennt, seine heidnische Weltbejahung. Denn die Anklage gegen das Leid der Welt, gegen die Herrschaft des Bösen verlangt den Schrei des Entsetzens und erträgt nicht das liebende Einverständnis mit der Welt im Ganzen.’

Jaspers, der so viel Positives schuf und schrieb, eine integere, lautere Persönlichkeit, der seine Ehe mit einer Jüdin nicht löste und deshalb Repressalien von den Nazis ausgesetzt war, aber durchhielt, wusste wovon er sprach. Trotzdem ist es weniger eine Auskunft von ihm über seine Person, als eine über die niedergekommene, darniederliegende, kaputte, zerstörte Gesellschaft. Es ist wie ein seismografischer Bericht. Wo das positive Wort, der humane Blick, der Versuch aufs Ganze, zur Empörung führt, während der religiöse Blick, der vermeintlich das Absolute erfasst, unangetastet bleibt, zeigt sich die Gesellschaft mit ihren Werten wahrlich im Argen und Zerstörten. Aus der Feststellung Jaspers spricht nicht nur ein Schulddenken und eine Verzweiflung, sondern auch eine resignierte Absage an den Menschen, der es selber schaffen werde, ‘seine’ Welt zu ‘retten’ und weiterzuführen. Die kürzliche Erfahrung schlimmster Barbarei war das Menetekel der Verlorenheit. Da störte der menschliche Versuch, wie ihn Goethe unternommen hatte, die beiden Pole von innen und aussen, oben und unten, Tag und Nacht, in seine Welt, sein Weltbild, sein Schaffen zu bringen. Die Absage an Harmonie oder heidnische Weltbejahung spricht sich nicht gegen Goethe aus, als vielmehr gegen die Gesellschaft, in der das zur Sünde wurde.

Einer der Kerngedanken aus Goethes Wertekatalog stellt der tiefe Respekt vor dem Leben dar, die volle Anerkenntnis der Liebe als Grundkraft überhaupt. Fehlt eines davon, kann nicht wirklich Humanes erreicht werden. Ein zweiter war die Persönlichkeit und ihre Entwicklung. Nur eine gewachsene Persönlichkeit vermag zumindest den Versuch, übers Partikulare, Einzelne, Disparate des Spezialisten hinauszugelangen und ein Einverständnis in der Welt, an der sie mitschafft, zu gewinnen. Goethes Haltung war eine gegen die aufkommende Zersplitterung des Menschen durch die Industrialisierung, gegen das isolierte, reduzierte Expertentum. Er steht damit konträr zum modernen Organisationsprogramm des her- und zugerichteten Menschen, der nur noch utilitären Funktionen zu entsprechen hat.

Dass so ein zutiefst humanes Denken, das gerade von den Nazis konterkariert worden war, nach der barbarischen Erfahrung abgelehnt wird, weil als empörend empfunden, zeigt, wie tief der Fall in den Abyssus war.

Heute ist Goethe den meisten unbekannt, eine Fussnote in einer Grussadresse, oder Pflichtprogramm von Kulturprofessionellen. Sein Werk muss als Steinbruch für’s Zitiergeschäft herhalten oder für’s Regietheater.

Wer aber die Werte bedenkt, und nicht an der Oberfläche verharrt, gerät in eine Dialektik, die Goethe schon heftig beschäftigte und die uns heute immer noch festhält. Die Werte sind alt, aber nicht obsolet.