Stille kracht

/ Haimo L. Handl

Die Erfahrungen eines Hörseminars, das ich kürzlich gab, entsprachen ganz und gar nicht den üblichen propagierten Slogans und Devisen der inszenierten Besinnlichkeit, die im gesteuerten Stress und gesteigerten Konsum ihre multiplen Orgasmen finden. Mir war aufgefallen, dass fast alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer (die Mehrzahl war weiblich!) Hörprobleme haben. Nicht physisch, organisch. Solche Hörgeschädigten waren nicht in der Gruppe. Sondern mental oder psychisch. Sie vermochten nicht einfach ‘besinnlich’ zu werden.

Einfache Hörübungen zeigten eine ziemlich hohe Indifferenz: geringes Nuancierungsvermögen einerseits, keine sensitive Wachheit im auditiven Aufnehmen und Verarbeiten andererseits. So wurden gewisse Worte nicht gehört oder verstanden, oft, weil sie im Hörfluss nicht beachtet worden waren. So wurden Sprechfehler anstandslos geschluckt, wiewohl die Übungsaufgabe lautete, auf solche zu achten.

Ich kann mir vorstellen und ausmalen, dass die Probleme bei jenen, die sich gezielt physisch schädigen und ihr Hörvermögen drastisch mindern, nicht nur Wahrnehmungsprobleme zunehmen, sondern auch andere mentale und sinnliche.

Das Sich-Einbetten in Dauergeräuschfelder beansprucht nicht nur das Gehör. Um aufmerksam werden zu können, bedarf es entweder einer Reizsteigerung, z.B. erhöhter Lautstärke, was nicht ohne negative Folgen unbeschränkt unternommen werden kann, oder anderer Stimuli, die die Aufmerksamkeit vom Geräuschteppich ablenken und woanders hinwenden.

Neben der damit erworbenen Stumpfheit erwachsen aber auch mentale Scheuklappen. Es engt sich das Gesichtsfeld, der Wahrnehmungskanal ein. Das wirkt sich auch auf das Denken aus. Engstirnigkeit, Borniertheit, Dumpfheit, Tumbheit, Dummheit gehen auf dieses Unerhörte, das nicht hören können zurück. Ein taubes Kind wird nicht ohne weiteres sprechen lernen. Der Taube bleibt tumb. Heute bemühen sich viele taub zu werden, als ob ihnen die neue Tumbheit Sorgen nähme, nur weil sie sie nicht mehr hören. Aus- und weggefiltert.

Daneben wirkt ein mentales Hörvermögen, ähnlich der Sprachempfindsamkeit: die Fähigkeit gut zu hören UND zu verstehen, raschest die Zeichen adäquat zu deuten, komplexe Verbindungen ‘weiterzuhören’, weiter zu denken, weil es nicht nur beim tonalen Reiz bleibt, sondern weil Denkfelder erschlossen werden in Verbindung mit Erfahrungsgehalten.

Eine Roheit, Grobheit, eine Vergröberung im Sinne einer Verrohung greift um sich und stumpft ab. Das führt zu einer Verarmung und Verkümmerung einerseits und zu einer einseitigen Reizsteigerung andererseits.

Gesellt sich zu dieser modischen Taubheit noch eine geminderte Lesefähigkeit, ist der neue Dumme das leicht knetbare, formbare Massenglied der tumben Massengesellschaft, das nach Betreuung schreit. Viele Betreuer, Coaches, Psychotherapeuten, Psychologen und andere Helfer nehmen sich ihrer an. Der Erfolg? Der allgemeinen und speziellen Lärmsteigerung nach gering. Dem Anwachsen der Hörgeschädigten nach noch geringer. Hinsichtlich der mental Hörbehinderten fand ich keine Studien. Von Dummheit (Tumbheit) zu reden ist tabu. Das erlauben sich die meisten Coaches nicht. Das wäre nicht marktgerecht. Und die meisten Journalisten erst recht nicht, weil die Dummheit ihrem Geschäft entgegen kommt.

Deshalb kann so laut und lärmend für Besinnlichkeit geworben und im Chor ‘Stille Nacht, heilige Nacht’ gedröhnt werden. Es ist einerlei.

Kaum ein Ort, an dem Stille herrscht. Stille scheint gefährlich, unheimlich. Heimelig ist den meisten der Lärm. Geängstigte schreien. Heute schreien viele oder hören sich das Geplärr laut über ihre Ohrstöpsel an. Nur ja nicht nichts hören. Denn wenn sie keinen Lärm hören, umhüllt sind von ihm wie von einem dichten Mantel, meinen sie NICHTS zu hören. Sie können die Stille nicht mehr differenzieren. Sie ist wie ein Nichts, vor dem ihnen graut. Also flüchten sie in die Hölle des Lärms als vermeintlicher Himmel.

Mit dem Zuhören können ist es noch prekärer. Das erfordert neben einem gewissen Hörvermögen ein entwickeltes soziales, mentales Vermögen. Einen gewissen Energieaufwand der Hinwendung, der Aufmerksamkeit, des sich Einlassens. Eine soziale Aktion.

Das Abschliessen, das Abstumpfen ist eine Art Egoismus. Der kann aus Flucht, Schwäche, Unvermögen erfolgen. Er kann auch aus Bequemlichkeit angelernt, trainiert werden. Es geht nicht um Schuldzuweisung. Niemand soll einer Krankheit wegen verurteilt werden. Aber die Krankheit zur Tugend zu machen, zum Geschäft - und dann über gewisse Folgen klagen ist unlauter, böse, dumm. Das fällt schliesslich auf alle zurück. Denn die Tumben, die Dummen, sind ein politischer Faktor. Und der ist stark. Leider.