Ernüchterung?

/ Haimo L. Handl

Wenn man das Fernsehen nahe besieht, wundert man sich nicht mehr. Das heisst, entweder ist man so abgestumpft, dass man sich auch nicht wunderte, wenn man sich wundern sollte, oder so sensibel, dass man, wenn man trotzdem fern sieht, nahe betrachtend, erschrickt, dass es nichts zu wundern gibt. Es ist eigentlich klar. Das Fernsehen ist ein Filter. Eine Droge. Das Geschwätz von Bildung ist nur eine Drapierung und Kaschierung.

Auch wenn der Eklat, den der eitle Marcel Reich-Ranicki mit seiner Zurückweisung des deutschen Fernsehpreises provozierte, inszeniert war, zeigte er in den Reaktionen doch auf, wie nebensächlich alle Erwartungen auf höhere Qualität oder Bildung sind. Fernsehchefs wie Herr Zeiler tun den Zirkus als unbedeutend ab, Profis belächeln die verschrobene Altart der Kultikone Reich-Ranicki und linke Medienakteure denunzieren alles als Altmännergeblödel. Hinsichtlich der Quantität, die Qualität selbst schon ist, treffen sich Kommerzfritzen mit Pseudolinken, wie Friedrich Küppersbusch, der in der deutschen Ostwestzeitung davon schwärmt, dass wir (wer wir?) ARTE von unten brauchen, und keine Bildungskaste, die den armen Proleten vorschreibt, was Bildung sei.

Da wird sogar Lenin vergessen und der pseudodemokratische Schmarren als Programmausweis hervorgezaubert. Aber es geht nicht um Qualität oder Demokratie. Die wären ja durch die Kommerzprodukte repräsentiert und erfüllt. Es geht eigentlich, zumindest das tippte MRR an, um eine andere Art von Populärmedium. Es geht auch um Bildung und Sinn. Doch Sinn, Sinnhaftigkeit und die Problematik von Unterhaltung als Zerstreuung sind tabuisiert. Wer Zerstreuung in Frage stellt, ist verdächtig. Wer zum Ausgleich seiner Zerstreutheit Konzentrationsübungen macht, am Besten in teuren Coachings und Meisterkursen (Meditation, Selbstvertiefung oder -erhöhung), stört nicht, weil er die Grundfragen nicht stellt, sondern demokratisch im Produktions-Konsumkreislauf mitmacht.

Die linke Bildungsfeindlichkeit trifft sich mit jener der verschroben gleichheitssüchtigen der Grünen und beide zusammen mit der der Spiesser und Geldverdiener. Bildung, im aufgeklärten Sinn, stört sie alle.

In wesentlichen Punkten hat MRR nicht recht, so wenig, wie die zynischen Geschäftemacher und Anmerker der Kulturindustrie, die entweder loben oder abtun. Das Fernsehen, wie es sich etabliert hat, kann nicht graduell verbessert werden. Bzw. das, was als solches gesehen wird oder würde, änderte nichts Wesentliches am Negativum. Primär ist die Droge Fernsehen ein Betäubungsmittel. Ein Filter zur Abschirmung dunkler Gedanken, bohrender Fragen. Denn die Geplagten, die Gestressten, die Werktätigen sollen abgelenkt werden durch Abspeisungen billiger, symbolischer Art. Sie sollen vergessen. Sie sollen sich wohlfühlen. Wen man früher ‘an der Stange’ hielt, soll heute den Platz vor dem Schirm und Monitor halten.

Wer klagt über Verrohung und Verdummung? Nicht die Serienmacher. Das Volk braucht den Kitzel: Morde, Gräueltaten in Nahaufnahmen, Schockierendes, Gewalttätiges. Morden, Töten, Foltern, Vergewaltigen. Dauerberieselung mit dem Wüstesten, was Menschen vollbringen können, damit dann besorgte Eltern- und Schulvertreter naiv oder scheinheilig nach Hintergründen der Gewaltspirale fragen, damit Politiker neue Kommissionen zur Ergründung der Politikverdrossenheit installieren. Dieweil werden die kitschigsten, zynischsten Serien von Reichen, Profiteuren, beamteten Verbrechern in Uniform und zivil von der Realität überholt, was aber allgemein nicht auffällt, weil sich alles so unterhaltsam ähnelt. Nichts überrascht mehr, ausser vielleicht der eigene Zusammenbruch und Verlust. Wenn jemand ‘wirklich’ seine eigenen Millionen verliert, dann klingt sein Geheul anders. Sonst ist es breiiges Gejammer und Murmeln oder Blöken, ununterscheidbar zum fabrizierten Gelächter vom Band, das für die Blöden eingespielt wird, damit sogar sie wissen, wann etwas zum Lachen sei. Fernsehen als Dompteuranstalt für die armen Viecher!

Wenn ich von ‘Sinn’ spreche, dann auch von Verantwortung. Das anonymisierende Medium verdeckt gerade sie bzw. lässt sie nicht aufkommen oder infiziert jene Reste, die unfreiwillig sichtbar werden. Fernsehen verseucht und schändet sogar das, was positiv intendiert gewesen sein mag.

Ich bin mir nicht sicher, wer die Verantwortung übernähme, falls er könnte, gäbe dieses Medium seine Filterfunktion auf. Was resultierte? Mehr Selbstmorde, mehr Gewalttätigkeiten in der Familie, in der Verwandtschaft, in den Schulen und Betrieben? Man muss, fairerweise, auch die Positiva dieser Droge sehen: sie hält Millionen am Leben, sie verhindert Aufruhr und Revolte. Sie ist ein wichtiges Politikum. Würden die Energien wach werden, niemand wäre derzeit gewappnet, mit ihnen positiv umzugehen. Also setzen Verantwortliche in den Staaten alles daran, dieses Rauschmittel zu verbessern. Es herrscht eine ungeheuer tiefe Angst vor dem Wahren im Plural, also dem Eigentlichen.

Was, wenn Massen nicht nur draufkommen, sondern verstehen? Und nicht nur verstehen, sondern nach diesem Verständnis handeln? Ein Aufruhr ginge durch die Gesellschaft, stärker als die Finanzkrisen, die gegenwärtig die Welt beuteln. Dieser Aufruhr liesse sich nicht mit Tausenden von Milliarden Euros oder Dollars ‘in den Griff’ kriegen. Deshalb wird lieber noch mehr Geld verbrannt, wird zynisch noch stärker ausgebeutet, belogen und betrogen, gestohlen und vernichtet in einem beispiellosen Raubzug. Denn all das ist immer noch ‘billiger’, weil systemkonform. Das Aufwachen der Betrogenen, die oft im Kleinen selbst als Minitäter mitbetrügen, wäre das Schlimmste, was den Machthabern ‘passieren’ könnte.

Vor allem das Fernsehen leistet hier seine gesellschaftlich wertvolle Arbeit im Sinne der Machthaber. Es verblödet nicht einfach, sondern es integriert, hält nieder einerseits, stabilisiert dadurch andererseits. Ein Rauschmittel, in den meisten Ländern sogar zwangsfinanziert. Ein Skandal sondergleichen. Der aber typisch ist für die ausgebeutete, ungebildete Gesellschaft, die partout Bildung verhindern will und damit bis jetzt höchst erfolgreich ist.