Das Verdikt

/ Haimo L. Handl

Milan Kundera habe einen schändlichen Verrat begangen. Urteilt die Weltzeitung DIE WELT. In der tschechischen Presse ist die Verurteilung bis auf wenige Ausnahmen fast einhellig. ‘Der Fall Kundera’, der gerade vor Beginn der Frankfurter Buchmesse lanciert wurde, erhitzt die Gemüter. Das energische Dementi des öffentlichkeitsscheuen Autors wird von den meisten nicht einmal ernst genommen.

Das zufällig jetzt aufgefundene Dokument aus dem Jahre 1950 wird als untrüglicher, eindeutiger Beweis gewertet. Nach diesem habe Milan Kundera Miroslav Dvorácek als Spion verpfiffen, worauf dieser, als er aus Deutschland wieder in die CSSR reiste, verhaftet wurde und für 22 Jahre verurteilt wurde.

Es liegt keine kriminaltechnische Prüfung des Dokuments vor. Es reicht das Offenkundige. Es passt plausibel in die Schnellverurteilung. Fast niemand scheint sich zu wundern, dass der tschechische Geheimdienst, die Staatssicherheit, die gut organisierte Polizei nie von der Existenz dieses Dokuments Kenntnis nahm, auch dann nicht, als Kundera das Paradies der Werktätigen verliess und nach Frankreich emigrierte. Hätte doch dem damaligen Regime einige Munition gegen den früheren, jugendlichen Kommunisten geliefert.

Stellvertretend für viele urteilt aber der brave Autor der moralisch hochwertigen Springerzeitung: ‘Als moralische Institution ist der Schriftsteller nicht mehr tragbar.’ Punkt. Aus. Basta. So schnell und einfach geht das. Und viele Köter kläffen.

Es gibt einige, die Verständnis mit Kunderas dokumentierter Anzeige von damals zeigen und damit beweisen, dass sie den Vorfall als gegeben annehmen. Keine Zweifel. Nein, im Gegenteil, Vorwürfe, warum der alte Kundera (Jahrgang 1929) sich nicht erinnern will bzw. strikt abstreitet. Das mache alles nur schlimmer. Es scheint nicht nur eindeutig, es IST eindeutig. Schuldig.

Just in einigen tschechischen Medien gibt es aber auch einige kritische Überlegungen von Leuten, die das System von früher kannten und wohl auch das jetzige kennen. Die die tschechische Neidgesellschaft von damals und heute kennen, die einiges von den Ränken vieler Lemuren und Intriganten, Mitläufer und Wendehälse wissen, von verbohrten Nationalisten und Linksfaschisten und was da sonst alles herumkreucht neben einigen Biedermännern.

Auch wenn das Dokument, eine Niederschrift eines Polizisten über eine Anzeige seitens Kundera, authentisch wäre, müsste der Fall, wenn er einer sein sollte, in den Relationen der damaligen Gesellschaft und Zeit gesehen werden. Vor allem müsste überprüft werden, ob die Niederschrift korrekt war. Eine kriminalistische Detektivarbeit wäre zu unternehmen.

Auf die höchst eigentümliche, befremdliche Kommunikationsart des Historikers Adam Hradilek geht z.B. Martin Zverina von Lidove noviny ein. Er stellt fest, dass Herr Hradilek vor der Veröffentlichung des Dokuments im Faksimile in der Zeitschrift RESPEKT zwar Milan Kundera per Fax kontaktierte, ihn aber nicht mit dem Dokument konfrontierte, ja nicht einmal mit dem Sachverhalt, sondern nur kryptisch nachfragte, ob er sich an einige Ereignisse vom Frühling 1950 noch erinnere.

Es ist völlig einsichtig, dass ein Autor, der mit tschechischen Medien keinen Kontakt pflegt, der in Tschechien nur inkognito reist(e) seit seiner Emigration, auf solch vage Anfrage nicht antworten wird. Das war provoziert. Wäre der Sachverhalt korrekt und klar kommuniziert worden, hätte Milan Kundera die Chance gehabt zu antworten. So wird alles wie in einem absurden Stück zur Schmierenkomödie, die dann pseudotapferen Moralaposteln à la Hans-Jörg Schmidt, dem Schnellrichter aus der WELT, den Beleg für die willkommene Verurteilung liefert.

Mich gemahnte der Vorfall an Konstrukte, wie sie in den Sechzigerjahren Ivan Vyskocyl (ebenfalls Jahrgang 1929 in ‘Bei-Spiele’, Original 1967, deutsch 1969 oder der kurzen Geschichte ‘Der, der eingesperrt sein soll’ (1966) eindrücklich absurd-verrückt realistisch erzählt hat. Nur, dass es hier und heute nicht um Literatur geht. Hier geht es um einen Herrn Hradilek , das Institut für Studien totalitärer Gesellschaften und darum, wie das fragliche Dokument, das Jahrzehnte in einem rigiden Polizeistaat ‘verstaubt’ darauf warten konnte, bis es findige Finder jetzt ausgraben und noch Findigere meinen, die Werke des Autors Kundera, der zufällig erfolgreich und berühmt ist, neu deuten zu müssen (dürfen/können).

Das Ganze stinkt und ist in der Art seiner Behandlung peinlich, um es nicht drastischer zu formulieren. Diese Art Gutmenschler sind wirklich eine Last. Welche Belege müsste man finden oder fabrizieren, um sie blosszustellen? Aber machte man das, beschmutzte man sich selbst. Unrat mit Unrat bekämpfen ist nicht empfehlenswert. Also belasse ich es beim Ausdruck meiner Abscheu.