Wenn Quantität Qualität ist

/ Haimo L. Handl

Quantität gilt für grosse Mehrheiten meist schon als messbare Qualität; nicht nur in den Massenmedien, im schnöden Geschäft, der Unterhaltungsindustrie, auch und besonders im Kulturbereich, wo die höchsten Absatzzahlen für Bücher glänzen und überzeugen, wo die höchsten Zuschauerzahlen höchste Einspielergebnisse produzieren usw.

Der Bestseller wird meist als bestes Produkt gesehen und geschätzt, als höchste Qualität, weil nicht bedacht wird und werden soll, dass das Produkt ‘nur’ den besten Verkaufserfolg erzielte. Das sagt eigentlich noch nicht viel über seine Qualität. Diesem dummen Bestsellerdenken unterliegen nicht nur profitgeile, eitle Autoren, sondern auch hochgebildete Autorinnen. Aber auch Filmemacher, Fernsehprofis usw.

Im Wirtschaftsleben machen uns Manager, je nach Konjunktur, klar, dass Fusionen nötig seien, weil nur Grosse mit weitreichendsten Netzwerken überleben könnten. Kleine hätten keine Chance.

Auch hinsichtlich der Sprache wird so vorgegangen: vergessen Sie Ihre Muttersprache, wenn sie keine Weltsprache ist. Sie ist den grossen unterlegen, hat keine Zukunft. Sie publizieren in einer Kleinsprache? Altmodisch und selbstbehindernd. English oder chinesisch. Das ist Gegenwart und Zukunft.

Die Prinzipien der breiten Massen, der schier unendlichen Grösse werden mathematisch untermauert. Und im elektronischen Verkehr unter Beweis gestellt. Welche Suchmaschinen funktionieren am erfolgreichsten? Und womit wohl? Wissen Sie, welche Anstrengungen unternommen werden, um im Spitzenfeld bestmöglicht platziert zu sein, immer gefunden zu werden in der Masse?

Mitte Juli publizierte der Soziologe James A. Evans der Universität Chicago in der amerikanischen, prestigeträchtigen Zeitschrift SCIENCE einen kurzen Artikel über seine Forschungsstudie über elektronisches Publizieren und die Verengung von Wissenschaft und Gelehrtentum (Electronic Publication and the Narrowing of Science and Scholarship, Science 18 July 2008: Vol. 321. no. 5887, pp. 395 - 399). Ein Satz sei daraus zitiert:

‘Searching online is more efficient and following hyperlinks quickly puts researchers in touch with prevailing opinion, but this may accelerate consensus and narrow the range of findings and ideas built upon.’

Mich hat das nicht überrascht. Schon als ich in den USA studierte und ganz begeistert die Bibliothek als Arbeitsstätte nutzte, fiel mir auf, dass das zielgerichtete Suchen bei den meisten vorherrschte und das Durchkämmen, Schmökern aus Zeitmangel fast nicht gepflegt wurde. In einigen Gesprächen und Lectures versuchte ich den Unterschied meinen Kolleginnen und Kollegen darzulegen: Zielgerichtetes Suchen ist sinnvoll, wenn ich von dem zu Findenden weiss und es finden will. Ich weiss also, was ich brauche, weiss, dass ich es nicht habe, und besorge es mir. Dafür suche ich zielgerichtet.

Von ganz anderer Art ist die offene Suche, die höchstens vage, thematisch zielgerichtet ist, nicht jedoch fokussiert auf Autoren oder Arbeiten, weil man nicht einmal weiss, was es von wem gibt. Es geht um ein Problem, ein Thema und das wache, höchst alerte Durchkämmen eines Gebiets und, wenn möglich, seiner Nachbarschaft. Dabei werden, weil nicht von vornherein nur bestimmte auserwählte Quellen konsultiert werden, Arbeiten ins Blickfeld geraten, die ‘unvorhergesehen’ sind, die aber, wegen des hohen Informationsstandes und tiefen Wissens, ‘interessant’ erscheinen, so dass sie kurz angesehen, ‘geprüft’ werden. Das Risiko besteht nur im möglichen Zeitverlust, wenn das Material sich als redundant oder untauglich erweisen sollte.

Aber dieses Risiko ist bei weitem wettgemacht durch die Chancen, Neues zu finden. Das Zielgerichtete kann nicht so neu sein wie das Unvorhergesehene, Unvermutete, früher Unbekannte.

Der ‘Luxus’ des Durchkämmens oder Schmökerns ist wie ein Öffnen der Poren, Weiten der Augen, Sensibilisieren des Gehörs, damit neben dem Bekannten auch das Andere erspäht, erfasst, erkannt werden möge.

Für ein Erweitern und Vertiefen von Wissen fand und finde ich beide Wege nützlich; selbstbeschränkend sind lediglich einseitige Extreme: nur zielgerichtet suchen, nur schmökern.

Wer weiss, wie Suchmaschinen aufgebaut sind, versteht, dass Unbekanntes kaum gefunden wird. Was früher Archivare und Bibliothekare auszeichnete, dass sie neben dem Allbekannten und Offensichtlichen das Verborgene, Versteckte, Seltene fanden, ist heute umgekehrt: die Maschinen finden das, was von allen am meisten gesucht wird, was am meisten gelesen wird und was die meisten Querverbindungen aufzeigt. Mit Qualität hat das nichts zu tun. Diese Art Quantitätsqualität verhindert sogar das Finden von wertvollem Material, das nicht ‘mainstream’ ist, das selten ist. So schrumpfen Datenspeicher, indem sie wachsen. Aber falsch. So werden Vorauswahlen getroffen, die manchem Einzelsucher nicht auffallen, weil er meint, ER hätte gefunden. Doch was alles zu finden gewesen wäre, sieht er nicht (mehr).

Würden wir uns in der Kultur nur auf die ‘Quote’ und Bestseller-Produkte verlassen, wir könnten die Archive und Bibliotheken leeren, die Traditionen kappen. Gegen die Bestseller können Werke von Autoren wie Musil, Broch oder Pound und Joyce, um nur einige zu nennen, nicht ankommen. Liegt es an der geringen Qualität?

Die Bestseller-Haltung führt zu höherer Standardisierung, Verringerung von Vielfalt (ähnlich der Reduktion der Artenvielfalt!) und Eliminierung von Produkten, die nur von einer kleinen Minderheit stammen oder überaus kritisch, kontroversiell, nicht dem Hauptinteresse der Gesellschaft entsprechen.

Im Universitätsbereich wurden schon vor Jahren die meisten ‘Orchiedeenfächer’ gestrichen, Institute geschlossen, die keinen sofort messbaren wirtschaftlichen Erfolg zeigen. Wer braucht schon Klassiker und humanistische Bildung, was sollen Geisteswissenschaften oder Altphilologie einem modernen Menschen bringen? Viele Kommunen wollen kein Geld mehr für Büchereien ausgeben: unnützer Ballast, Bücher in Regalen…

Manager, Politiker und Ingenieure sowie Militaristen kommen mit Spezialwissen aus. Dafür reichen Fachausbildungen. Den Rest liefern bekannte Suchmaschinen, die einen sofort mit dem Gängigen, dem kanonisierten mainstream food versorgen.

Je zielgerichteter das Feld fokussiert wird, desto undurchdringlicher die Begrenzungen, die Mauern. Das Gesichtsfeld schrumpft, wie im Teleskop. Da helfen auch keine Weitwinkelobjektive mehr, die man sich zeitweise, ähnlich den Exerzitien in seelischen Wechselbadkursen und Coachings verabreicht, um dann die Spezialisierung noch straffer und effizienter vorantreiben zu können.

Extreme Zielausrichtung verhindert Kritik. Sie stärkt die Eigengruppe, schafft eine Bunkerwelt. Das mag in Religionen oder chauvinistischen Unreifekreisen üblich sein, für die Kultur und Wissenschaft bewirkt so eine Haltung den Bankrott und Niedergang.