Die europäische Malaise

/ Haimo L. Handl

Eigentlich wollte ich heute über europäische Kultur und Identität schreiben. Aber das irische Nein zum Vertrag von Lissabon, und vor allem die Reaktionen wichtiger EU-Repräsentanten darauf, ‘zwingen’ mich das hintanzustellen und mich über die tiefe Krise auszulassen.

Die Union ist keine Verbindung von ‘Bananenrepubliken’, wie man jene Gebilde nennt, die nur vordergründig und scheinbar eine res publica sind. Aber sie kommt gefährlich nahe ran. Sie ist auch nicht verwaltet und kontrolliert wie die Sowjetunion unter Breschniew, aber sie kommt ganz nahe ran. Es gibt noch keine KZs, keine offizielle Folter, und es wird behauptet, alles laufe rechtsstaatlich. Wahlen seien Wahlen. Recht bleibe Recht.

Nun, die Polzeien in den Mitgliedsstaaten haben Kompetenzen erhalten, die die wichtigen Bürgerrechte aushebelten. Totale Überwachung wird geübt. Berufsverbote durchgeführt, Jagden auf Verdächtige exekutiert. Wird wer terrorverdächtig, hat er kaum Chancen auf faire Verfahren. Oft erfährt er es nicht und wundert sich dann, wie Josef K. ,was mit ihm geschieht. In der Union wird das als erfolgreicher Antiterrorkrieg verkauft.

Der freie Warenverkehr geht über den Personenverkehr bzw. die Bürgerrechte. Demonstrieren Bürger gegen Lärm (Autobahnen), Verschmutzung oder radioaktive Gefahren, wird die Demonstration verboten, weil sie den freien Warenverkehr stört. Es werden Gegenforderungen gestellt. Gewerkschaften, so sie in ihrer Schwäche noch zu nennenswerten Aktionen fähig sind, sehen sich teuren Forderungen gegenübergestellt. Es wird ein Luxus zu streiken.

Die Korruption in der Union hat trotz OLAF (europäische Antibetrugsbehörde) enorme Ausmasse angenommen. Sie ist direkt verwoben mit den tiefverwurzelten Korruptionsnetzen in fast allen Mitgliedsländern. Das ist nicht nur das mafiotische Italien, das ist auch England, Deutschland, Frankreich, Österreich und, fast ist man gewohnt zu sagen ‘natürlich’, das sind die neuen Länder aus dem Osten. Dass das Musterland Finnland jetzt eine öffentliche Betrugsaffäre bewältigen muss, ist der Punkt auf dem I.

Das Europäische Parlament hat in den letzten Jahren eine kleine Aufwertung erhalten, ist aber immer noch keine vollwertige legislative Kammer. Es ist ein Debattierklub, dessen Rechte stark beschnitten sind. Es darf nicht einmal Misstrauensvoten gegen einzelne Kommissare äussern, es darf ‘Empfehlungen’ abgeben und es darf absegnen. Es ist eine Verlegenheitslösung.

Die Kommission (Namensgebung wie aus der Sowjetzeit) mit ihren Kommissaren wirkt im Verbund mit dem Ministerrat fast autokratisch. Die nationalen oder chauvinistischen Interessen einzelner Mitgliedsstaaten verhinderten eine Änderung dieser desolaten Situation.

Es gibt jetzt schon de facto zwei ‘Europas’ innerhalb der Union: eines der Eurozone, eines draussen. Das Land mit dem zweitwichtigsten Finanzplatz der Welt, Grossbritannien, blieb draussen und verhinderte damit eine einheitlichere, stärkere europäische Währungspolitik. Und legt sich sonst in wichtigen gemeinsamen Bereichen quer. Die Dänen meuterten und bekamen Sonderrechte.

Jetzt überlegt man, ob man den Iren, die wider Erwarten mit ‘Nein’ gestimmt haben, obwohl sie von der EU Milliardenhilfen erhalten hatten, einen Sondervertrag gibt, damit die andere EU weitermachen kann. Andere Überlegungen sind: nochmals abstimmen bzw. solange, bis das gewünschte Ergebnis da ist. Wiederum andere meinen, man könne auch so weitermachen. Schliesslich hätten schon 18 Staaten den Lissabon-Vertrag ratifiziert. Also ist nichts geschehen und der Vertrag wird durchgesetzt.

Ohne hier ins Detail gehen zu können, soll die vorherrschende politische Sicht, das eigentümliche Rechtsverständnis kurz beleuchtet werden. Fast alle diese Aussagen, die wir nach einer Schrecksekunde von Regierungschefs und hohen EU-Repräsentanten zu hören bekamen, indizieren ein sehr gestörtes Verhältnis zur Demokratie und zur Rechtsstaatlichkeit.

Die anderen Staaten wussten offensichtlich, was zu befürchten war: dass die Volkshaltungen nicht mit den ihren übereinstimmten, weshalb, ausser Irland, kein Mitgliedsstaat eine Abstimmung erlaubte. Die irische Regierung war sich sicher, die Abstimmung werde positiv ausgehen. Aber Milliardenförderung hin, Dankbarkeit her, Politik ist, wenn das Volk abstimmt, nicht immer so fix, wie erwartet. Immerhin hat das irische ‘Nein’ bewiesen, dass dort noch kein Breschniewsystem funktioniert. Sonst wäre ein ‘Ja’ mit 98,2 % Stimmanteil geliefert worden.

Da die Umstellungen auf Scheinwahlen trotz Kenntnis der Techniken, wie sie in der Sowjetunion und im glorreichen Arbeiter- und Bauernstaat geübt wurden, nicht so leicht zu installieren sind, wurden Abstimmungen in allen anderen Ländern verboten bzw. nicht gestattet bzw. gar nicht anvisiert.

Und die Reaktionen auf das irische ‘Nein’ geben Skeptikern recht: Wahlen gelten nichts. Man ärgert sich über eine Abweichung. Aber man fordert sowieso weiterzumachen. Wahlen dürfen keinen Einfluss haben, dürfen den kommissarischen Plan nicht kreuzen.

Vielleicht ringt sich die Union doch durch, Wahlen nur noch kontrolliert, mit fertigem Ergebnis, wie in Russland oder der früheren DDR, zu organisieren? Oder sie schafft die ganze Prozedur ab, um Kosten zu sparen. Denn was sollen Wahlgänge, die gleich-gültig sind?

Daher könnte man auch das Europäische Parlament auflösen, wenn man es nicht endlich zu einem vollwertigen macht. Denn dieses Parlament ist so ineffektiv wie der österreichische Rechnungshof, der zwar prüfen, aber nur Empfehlungen ausgeben darf, die dann einfach nicht beachtet werden, weil sie nicht beachtet werden müssen. Weshalb die Prüfung, wenn die daraus folgenden Resultate und Empfehlungen nicht durchsetzbar sind? Um den lügenhaften Schein von Kontrolle und Rechtsstaatlichkeit zu wahren? Um die Als-ob-Politik weiter führen zu können.

Weshalb ein Parlament, wenn es nichts wirklich zu sagen und bestimmen hat? Weshalb Wahlen, wenn der Wahlausgang irrelevant ist?

(Vor 41 Jahren war der Aufsehen erregende Roman ‘Wie die Macht schmeckt’ des aus Jugoslawien emigrierten Autors Ladislav Mňačko erschienen. Er behandelte ein Problem des realen Sozialismus. Heute ist er für ‘Westler’ übertragbar und besonders lesenswert.) Es zeigt sich eine neue Arroganz der Macht.