Observations- und Korruptionskultur

/ Haimo L. Handl

In vielen Ländern der Europäischen Union zeigen sich kriminelle Machenschaften von Regierungen, Behörden und Grossunternehmen in immer rascherer Abfolge: das Ausmass der Kriminalität nimmt besorgniserregende Züge an. In keiner Statistik lässt sich eine diesbezügliche ‘Kriminalitätsrate’ ablesen; vermutlich stellten ihre Zahlen alle anderen in den Schatten. So ist die Öffentlichkeit auf Pannen angewiesen, Zufälle und Medien, die trotz der Verflechtung, manchmal sogar Verfilzung mit wichtigen Firmen oder staatlichen Stellen, berichten und sich nicht in belobigter Selbstzensur üben.

Das Verbrechensausmass ist verschieden. Die Deutung und Bewertung ebenso. Während die EU-Kommission Bulgarien jetzt nicht nur verbal rügt ob seiner seit Eintrittsbeginn offenen, mafiotischen Korruptionspolitik, sondern droht, zugesprochene Gelder zurückzubehalten, gibt es hinsichtlich Italien, wo die Mafia seit langem ein Teil des Staates ist und einen wichtigen Faktor für die Politik und Wirtschaft darstellt, keine solchen Massnahmen. Dort belässt man es bei kleineren, nicht so tiefgreifenden Aktionen.

Ähnliches ist in Grossbritannien, Deutschland oder Frankreich zu beobachten. Als in Österreich die Haider-Schüsselpartie die Koalition zimmerte, wurde eine beispiellose Sanktionspolitik durchgezogen. Jetzt, wo ein Innenminister das Parlament brüskiert, wo die Polizei immer mehr Fälle von polizeilicher Kriminalität nicht verdecken und versteckt halten kann, aber die Volkspartei standfest jede Aufdeckung in Verbindung mit ihrem Innenminister behindert, gibt es nicht einmal nennenswerte Proteste.

Zwar gibt es in Österreich noch keine ‘gezielten Tötungen’ oder ordinäre mafiotische Morde ‘auf offener Strasse’, wie in Bulgarien oder einigen anderen neuen Mitgliedsländern bzw. dem Gründungsmitgliedsland Italien, noch keine staatlich organisierten Todesschwadrone, aber die Hatzen und Jagden, die die österreichische Polizei durchführt, und die einer ganz bestimmten Politik entsprechen, sind die Vorstufe davon, sind jetzt schon gegen geltendes Recht.

Diese Vorfälle beweisen, wie die X-fachen grossen Korruptionsfälle, dass der Rechtsstaat nicht mehr funktioniert, ja, dass er im Wesentlichen nicht mehr existiert. Wir haben uns so daran gewöhnt, dass vieles, was wir aus der Geschichte kennen, nicht mehr möglich sein könne, dass wir es nicht glauben wollen.

Nicht viele ahnten oder hielten es für möglich, dass in europäischen Demokratien eines Tages systematisch die Bürgerrechte unterminiert und schliesslich ausser Kraft gesetzt würden, dass Folter, obwohl offiziell verboten, häufig und heftig geübt wird, das gezielt getötet wird, dass Polizeiorganisationen in vielen EU-Ländern Teil des syndikalisierten Verbrechens sind, dass staatliche Korruption die ‘private’ übertrifft. Es ist schlimmer gekommen.

Die Zäsur setzte ein mit dem ominösen 11. September. Aber die Durchschlagskraft der Konvertierung in Polizeistaaten war nur möglich, weil der Boden dafür schon lange vorher zubreitet worden war. Am deutlichsten zeigt sich das im Bereich der Observierung, Überwachung und der Datensammlungen. Es gibt keine verbürgte Privatsphäre mehr, keinen wirklichen Datenschutz. Dafür gibt es Vernetzungen vieler Datenbanken, die mit Material staatlicher und privater Quellen gefüttert werden.

Die neue Technologie, die Hochleistungscomputer erlauben jetzt nicht nur eine präziesere Verfolgung und Kontrolle, sondern eine komplexe ‘Profilierung’, das heisst, eine Profilerstellung des oder der Observierten, die Hintergründe von räumlicher Veränderung, Kontakten (Beziehungsnetze), Kommunikationsverhalten, Kaufverhalten und persönlicher privater Neigungen ausweist.

In Grossbritannien wird jetzt im Juni von Gerichten geprüft und geurteilt werden, ob die Forderung der Manchaster Polizei, ein Reporter müsse seine Quellen offen legen und damit seine Daten übergeben, rechtens ist oder nicht. Erhält die Polizei dieses weitere Recht, wird die freie Investigation und ihre Berichterstattung praktisch verunmöglicht, weil dann die Journalisten nicht mehr wie bisher ein anerkanntes Redaktionsgeheimnis wahren dürfen, sondern die Daten der Polizei abliefern müssen. Das wird dann so sein, als ob jemand nicht mit dem Journalisten, sondern gleich einem Polizeiagenten spricht.

Das geht weit über Einzelfälle hinaus. Der gewollte, nachhaltige Nebeneffekt ist viel weitreichender: der Staat, seine Regierungsstellen und Behörden, vorab die Polizeiorganisationen, werden zur einzigen Informationsquelle. Was das bedeutet, kann man sich aufgrund der vielen Korruptionsfälle und polizeilicher Kriminalität leicht vorstellen.

Damit wird potenzielle Kritik verhindert. Aufdeckungen über Regierungsaktionen werden unmöglich. Gerade hinsichtlich eines Kriegsengagements oder sogenannter ‘Friedensaktionen’ (Irak, Afghanistan, Sudan, Tschad etc.) hätte das enorme Auswirkungen. (Hätten damals die Regierungen schon jene ‘Rechte’ gehabt, die jetzt gefordert werden, wären mehr Staaten immer noch im Krieg.)

In wichtigen Bereichen fielen wir damit auf das Niveau von Diktaturen. Dass der Horror kein inszenierter ist, beweisen unter anderem auch die vielen unternehmerischen Observationsaktionen in Deutschland. Die Lebensmittelkette Lidl wurde bekannt mit systematischen Beschnüffelungen. Was jetzt über die deutsche Telekom zutage trat, war bisher beispiellos. Dort wurde von den Spitzenmanagern genau das unternommen, was ich vorher ganz kurz negativ skizziert habe (Profilerstellungen).

Man kann sich leicht ausmalen, was das heisst, wenn Unternehmen ihre so gewonnenen Daten lukrativ mit staatlichen Stellen ‘teilen’: Jede Art von Erpressung, Existenzbedrohung (faktische Berufsverbote), wichtige wirtschaftliche Begünstigungen (bei Ausschreibungen, bei Insidergeschäften), politische Ausschaltung (wenn nötig, mit Lancieren persönlich kompromittierender Fakten) bis hin zur systematischen Disformationspolitik (gemeinhin sagt man ‘Dis-Informationspolitik’), politisch, ökonomisch, sozial. Das geht bis zu Manipulationen von Weltmarktpreisen, die ganze Gesellschaften existenziell treffen können, wie jetzt der allein aufgrund von funktionierenden Spekulationen verursachte extrem hohe Ölpreis, wie überhaupt die Lenkung von ‘Engpässen’ bzw., wo es dessen gar nicht bedarf, der Preise, wie eben beim Öl oder gewissen Nahrungsmitteln.

Diesen kriminellen Machenschaften kommt eine bedauerliche Trägheit seitens der Bevölkerung entgegen. Zu leicht akzeptiert(e) man Kontrollmassnahmen. Immer mehr Einschränkungen der Bürgerrechte wurden und werden hingenommen mit dem Argument, es gehe um die Sicherheit. Jetzt müsste eigentlich auch jenen, die keine Fantasie und wenig Wissen haben klar werden, um welche Sicherheit es sich da handelt.

Es ist die Sicherheit des Machtmissbrauchs, der besonderen Profite und des Staatsterrors.

Wem das zu heftig klingt, der kann es ja filtern und ‘weicher’ formulieren. Aber an und in der Sache wird sich nichts ändern, wenn diese Art Politik nicht sofort gestoppt wird. Von wem nur?