Eigen ist nicht einzig aber dennoch anders

/ Haimo L. Handl

Das Gleichheitsdiktat leugnet Eigenheit, Unterschiede und redet trotzdem vom Fremden. Aber wie kann wer fremd sein, also anders sein, und trotzdem gleich? Kein Problem, wenn die Gleichheit in einer anderen Dimension gesucht und gefunden wird. Eine Frage der Begriffshierarchie. Ein Begriff, der alles erklären soll, eine ‘Allerweltsdefinition’, ist unbrauchbar, weil so eine Erklärung nichts erklärte. Definition, Erklärung muss das Genuine gegenüber dem Anderen, dem Allgemeinen als Besonderes erkennen.

Alle Menschen sind gleich. Gut so. Sicher. Aber alleine biologisch haben wir (noch) einen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Die Gleichheit wird vernünftigerweise nicht ‘in allem’ gesehen oder gefordert, sondern in einem bestimmten Bereich, z.B. dem der Gattung. Das macht Sinn. Es wäre unvernünftig, eine andere Gleichheit zu postulieren. Nicht nur geschlechtlich ist der Mensch verschieden, auch hinsichtlich anderer Merkmale. Allein schon das Konzept des Individuums und der Person verlangt eine Eigenheit. Der oder die Eine unterscheidet sich von der oder dem Anderen. Ohne Unterschied nur Diffusividät. Individualität bedingt Grenze, Kontrast.

Alle Sprachen sind gleich. Trotzdem ist es ganz schön schwierig, zusätzlich zu jener oder jenen Sprachen, in die wir erstsozialisiert wurden, andere hinzuzulernen. Gleich im Sinne von ‘gleichwertig’ (früher hätte auch ‘gleichgültig’ gesagt werden dürfen, heute wertet etwas, das gleich gilt, ab!) sind aber alle Sprachen, sobald sie Sprachen sind, weil sie die bestimmenden Merkmale eines komplexen Symbolsystems aufweisen. Das heisst, sobald definierte Minimalkriterien erfüllt sind, weise ich einem Symbolsystem den Begriff ‘Sprache’ zu, unabhängig der ‘Form’ der Sprache, der Anzahl der Sprachfamilienmitglieder usw.

Es gab zwar früher hie und da, im Zuge chauvinistischer Bemühungen Versuche, die eine Sprache gegenüber einer anderen hervorzuheben, als besonders tauglich zu reklamieren, eine Superiorität zu fordern etc., aber das war gemeine Politik. Es war auch kurzsichtige Borniertheit, Ideologie. Sprachen sind nicht besser oder schlechter hinsichtlich ihrer wesentlichen Eigenheit und Funktion: Verständigung, Kommunikation; Weltaneignung und Ausdruck davon. Das, was Sprachen voneinander unterscheidet, liegt nicht in diesem fundamentalen Bereich. Sonst wären Übersetzungen nicht möglich, ebenso wenig Verständigung.

Die Unterschiede liegen im Ohr, auf der Hand. Würde sich die Gleichheit der Sprachen ‘in allem’ zeigen, hätten wir keine solchen Unterschiede, die Übersetzungen nötig machten. Wir hätten nicht Sprachen, Plural, sondern eine Sprache, Singular. Die Gleichheit betrifft nur die Gattung ‘Sprache’ als bestimmtes Symbolsystem. Punkt. Dann beginnen die Ungleichheiten.

Das lässt sich auf die Menschen übertragen und die Gesellschaften, denen sie zugehören, von wo sie stammen. (Schon die Sprache drückt das aus: ‘stammen’ von ‘Stamm’; wenn jemand von wo stammt, dann kann der Weg, wovon er ‘kommt’, auf den Stamm zurückgeführt werden: das Bild oder Konzept bedingt die Vorstellung einer ‘eigenen’, abgegrenzten Gemeinschaft, eines sozialen Organismus, der, wie ein Stamm, ein Baum, sich verwurzelt hat und hochgewachsen ist… In anderen Sprachen gibt es vielleicht nicht diese Wortfamilie, sondern eine andere. Trotzdem sind die Begriffe mit ihren dahinter- oder darunter liegenden Bildern vergleichbar und zu übersetzen, wenn auch nicht 1:1.)

Viele haben Angst vor Anderen, vor dem Anderen oder Fremden. In einer Art Flucht nach vorn fokussieren sie auf Gleichheit. Sie verschieben Ebenen und Wertfelder und anerkennen Unterschiede nur im Marginalen, wenn überhaupt. Probleme, die sich dabei ergeben, werden moralisiert, ethisiert und bösen Absichten zugeschrieben. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Wir sind alle gleich. Kusch! Es geht sogar so weit, dass verlangt wird, man solle Anderes nicht mit eigenen Augen sehen. Redet wer von Afrikanern, Asiaten oder Moslems, wird mokiert angemerkt, er rede als Europäer, als Weisser, als Christ etc. Er schaue mit eigenen Augen. Erstaunlich, denn womit sonst soll jemand schauen? Womit sonst, denn mit seiner Sprache soll er denken und sprechen? All das verhindert ja nicht den Kontakt mit den anderen Menschen und die Übersetzung aus anderen Sprachen usw.

Dass eine Sicht gegen eine andere unterschieden werden kann bedingt, dass es sie gibt. Sonst gäbe es keinen Unterschied. Man muss das umdrehen, um die Dummheit in dem Kurzverständnis aufzuzeigen: der Andere solle mit meinen Augen sehen. Nach welchen Kriterien soll jetzt wer welche Sichtweise, welche Sprache wählen? Es kommt zur Machtfrage. Aber das hatten wir doch politisch schon. Die Gleichheitsapostel von heute sind in vielem verdeckte, umgepolte Chauvinisten.

Wenn ich mit anderen Augen sehe solle, der Andere mit meinen, bedingt das zumindest die Existenz zweier Sichtweisen (Sprachen, Wertsysteme) und, wichtig, das Vermögen, sie zu nutzen, also ausreichende Kenntnisse. Die sind aber nur möglich, wenn ich beide Systeme anerkenne und verwende.

Sprachen und ihre Übersetzbarkeit eignen sich gut als Beispiel eines komplexen Bezugfeldes. Gäbe es die Unterschiede nicht, gäbe es nicht mehrere Sprachen, sondern nur eine. Gibt es aber nicht. Das werden auch verkrampfte Ideologen nicht leugnen können. Die Praxis widerspricht ihren Predigten. Die eigene Sprache gut erlernt zu haben bedingt nicht und heisst nicht, andere Sprachen abwehren, abzuwerten etc.

Umgekehrt kann gesagt werden, dass derjenige, der seine eigene Sprache nicht ‘voll’ beherrscht, auch eine andere nicht gut erlernen wird können. Das Problem ist nicht theoretisch, sondern praktisch bedeutsam und X-fach belegt.

Eine fremde Sprache erlernen heisst also, ein fremdes Zeichensystem zu verstehen lernen. Das geht nur in Bezug auf das eigene System, weil sonst nicht übertragen, übersetzt werden könnte. Das Fänomen des Übersetzen erklärt sofort die Bedeutung des Einen und Anderen, des Eigenen und Fremden. Ohne nationalistische, religiöse oder andere Auf- und Abwertungen. Wenn ich aus dem Englischen ins Deutsche übersetzen will, muss ich nicht nur Englisch ‘können’, sondern auch Deutsch. Die Qualität der Übersetzung hängt von diesen Kenntnissen ab. Aber immer sind es Kenntnisse aus beiden Zeichensystem, beiden Wertewelten.

Je besser ein Übersetzer, je sensibler ein Sprecher, desto deutlicher ist ihm bewusst, dass Übersetzen nur eine Annäherung sein kann, wie Verstehen auch. Denn sogar in der gemeinsamen eigenen Sprache gibt es vielfältigste Verstehensunterschiede von denselben gebrauchten Begriffen. Weshalb Verständigung dennoch möglich ist, rührt von den ‘Deckungen’ in den semantischen Feldern her, von einer gewissen Vagheit und Offenheit, die unterschiedliche Bilder in einem gleichen Begriff versammelt. Das Ungefähre reicht im Alltag. Wo es um höchste Präzision geht, haben auch Experten als Übersetzer höchste Schwierigkeiten. Sogar in der eigenen Sprache, weshalb es ja die unbeliebten ‘Amts’- oder ‘Fach’-Sprachen gibt, die dem Laien, obwohl Mitglied derselben Sprachfamilie, ‘übersetzt’ werden müssen.

Der Gleichheitsterror rührt wahrscheinlich aus einer Angst von Einfachen, Eindimensionalen, die die Komplexität des Vielfachen, Unterschiedlichen fürchten. Eine bestimmte Sprache zu bevorzugen oder besonders mögen, heisst nicht, die anderen abwerten. Sonst wäre jede Wahl für das Eine eine Abwertung des/der Anderen. Wenn das für Bornierte wirklich so ist, sind sie allerdings vor die Aufgabe gestellt, die ‘Artenvielfalt’ zu reduzieren, alles gleich zu machen, um nie vor die Wahl gestellt zu werden. Kultürlich kann die Wahl für X eine Abwertung von Y bedeuten. Aber nur dann, wenn Y geprüft wurde und aus bestimmten Gründen X unterliegt, weshalb X gewählt wird. Aber in vielen, vielen Bereichen ‘wählen’ wir, ohne je andere Ypsilons prüfen zu können. Das beginnt schon im Kleinen, in der Wahl der nächsten Kameraden, Kollegen, Bekannten, Freunde, Partner.

Würde die Partnerschaft nach Gleichheitsprinzipien auszurichten sein, hätten wir Chaos und Krieg. Dass ich die Person X ‘wähle’ oder mich von ihr ‘wählen’ lasse, um es abgekürzt zu sagen, kann die Millionen anderen, die für ‘Y’ stünden, nicht berühren, weil ich mit ihnen gar nicht in Kontakt kam, keine Informationen habe usw. Und weil es auch vernünftigerweise nicht gefordert werden kann: es liesse sich ‘praktisch’ nicht durchführen.

Wären über die Gattung oder das Allgemeine hinaus die Menschen gleich, müssten wir unterschiedslos Verbindungen knüpfen. Aber welches ‘Liebesverhältnis’ z.B. ist ‘gerecht’? Kommen wir mit krudem, dummen Denken von ‘Gleichheit’ nicht in eine Verlogenheit? Ähnlich der peinlichen Anmerkung eines Afrikaners, der das Nichtinteresse einer europäischen Frau blöd und gemein als Rassismus auslegt: ‘Du gibst mir keine Chance, du fickst nicht mit mir, weil ich Schwarzer bin.’ Diese frechdumme Sicht gibt es in verschiedenen Varianten bei vielen Menschen unterschiedlicher Kulturen. Allen unterliegt das beschädigte oder fehlende Verständnis von Ich und Du, Eigenes und Fremdes.