Fühlen & Glaubenwissen

/ Haimo L. Handl

Religiöse Glauben erstarken und das grundlose Vertrauen ins zu Glaubende nimmt wieder schlimme Formen an. Viele Glaubensformen zeigen offen ihren eigentlichen Suchtcharakter. Der Anteil der Süchtigen nimmt zu. Quasireligiöses Denken ersetzt vernünftiges, verhindert kritisches und steigert die Intoleranz.

‘Wie sich das Sterben anfühlt, das weiss nur der, der schon gestorben ist. Den Hinterbliebenen bleibt das Rätsel Tod.’ Diesen frappierenden Satz lese ich nicht in einem mittelalterlichen Pamphlet, einem Sektentraktat, sondern in einer Rezension des neuen Romans von Marlene Streeruwitz in der Neuen Zürcher Zeitung. Das besprochene Buch, das ich nicht kenne, scheint dergestalt, dass der Satz der Autorin zugeschrieben werden könnte. Aber er ist von der Rezensentin, die sich einen Überblick verschafft hat, die das Werk bespricht, die zu uns darüber spricht.

Welches Hoffnungsdenken, welche Sicherheit, welche Zuversicht! Es gibt nichts Unerfahrbares! Tod? Wo ist dein Stachel? Brahms verwendete diesen Satz in seinem Deutschen Requiem. Er verstieg sich nicht zum Fühlen. Hier aber wird behauptet, der Tote, der Verstorbene, der also das Leben und Fühlen hinter sich hat, erst er weiss um das Fühlen des Sterbens. Es ist wie mit dem Leben. Ich bringe dich um. Ich töte dich. Aber da du ewig lebst, habe ich dich nicht umgebracht, sondern nur in dein ewiges Leben befördert. Weshalb der Zorn und die Wut über den Mord? Sollten wir es uns nicht zur Aufgabe machen, uns entweder gleich selber zu töten, um das ewige Leben zu gewinnen, oder gezielt die Anderen, als nächstenliebender Hilfsdienst, damit sie in die ewigen Jagdgründe eintreten dürfen, ins Paradies zu den Jungfrauen und den Südfrüchten?

Interessant ist aber auch der Begriff von ‘Wissen’, der hier verwendet wird. Bislang reservierten Vernünftige ‘Wissen’ an einen ‘lebenden’ Menschen und einen gewissen Bewusstseinszustand. Das nicht aktivierte Wissen, das latente und implizite, ist komplex gespeichert, wird aber erst dann zum ‘Wissen’ im Vollzug, im Denken und Handeln. Bislang schreiben Vernünftige diese humanen Fähigkeiten nur Lebenden zu. Zu sagen ‘lebenden Menschen’ ist eigentlich ein Pleonasmus, weil ein toter Mensch kein Mensch mehr ist, keine Person, sondern ein Kadaver, eine Leiche, ein sich zersetzendes Ding.

Die Abwehr der Angst vor dieser Verdinglichung führt die meisten zum Opium Religion. Andere zusätzlich zu Aussagen, dass Tote wissen. Das tote Wissen lebt! Der Widerspruch eint. Es gibt keinen Tod, alles ist ewiges Leben. Tote wissen mehr als Lebende. Denn den Hinterbliebenen, jenen, die noch das Unglück haben lebend ausharren zu müssen, bis sie endlich sterbend ürfen, denen mangelt das Wissen um das Anfühlen des Sterbens. Der erfahrbare Tod.

Bislang war für Vernünftige Erfahrung, wie Wissen, an den Lebensvollzug gebunden. Und an eine bestimmte Qualität von Wahrnehmung und deren Verarbeitung. Erfahrung setzt einen Fortgang voraus: etwas war, ist und entfaltet sich in der Gegenwart weiter, das heisst, nimmt Zukünftiges herein. Der Tod ist ein Abbruch, kein Unterbruch. Der Mensch stirbt, das heisst, er hört auf Mensch zu sein. Was immer er wird: er bleibt nicht, was er war, er ist und wird nicht mehr sein, was er war. Sein Ding mag sich wandeln etc., er ist nicht mehr er. Das heisst, es gibt die Verbindung von Geist und Körper nicht mehr. Es gibt die Apparatur, die alles ermöglicht, was wir Fühlen und Denken nennen, nicht mehr.

Natürlich ersetzen die Religiösen das mit dem Geisterdenken. Ihre Ewiglebewesen, die keinen Tod kennen, fühlen und wissen körperlos. Niemand weiss, wie das geschieht, geschehen könne, aber viele glauben es inbrünstig. Sie koppeln sogar Identitäten und Persönlichkeiten an die Toten und hoffen sich glücklich dort zu finden, wenn sie einmal das kurze Erdenleben hinter sich gebracht haben werden.

Der Abbruch des Lebens, der Tod, ist nicht erfahrbar. Er beendet nämlich die Voraussetzung der Erfahrung: den lebenden, funktionierenden Körper mit seiner ‘Seele’ oder seinem ‘Geist’. Es gibt kein Fühlen, kein Wissen nach dem Abbruch. Viele sagen, der Tod sei kein Abbruch, sondern ein Wechsel. Aber der Wechsel unterbricht nicht ein Leben, er bricht es ab. Darum kommt niemand herum. Es ist offensichtlich. Aber weil es unannehmbar scheint, wird es umgedeutet. Der Tod ist ein Schlaf, das Leben geht weiter. Nun, Unterbrüche sind erfahrbar. Also sagen die Religiösen, wir erfahren den Tod, und Tote, Gestorbene wissen, wie sich ihr Sterben anfühlte: und dann legen sie ihre menschlichen Imaginationen und Wünsche hinein und mutmassen nicht nur, sondern behaupten, dass es so sei. Die Toten, vor lauter Fühlen und Wissen, antworten nicht. Sie sind ja schon drüben, im ewigen Leben.

Viele beklagen die Verdrängung und Tabuisierung des Sterbens und des Todes einerseits, das organisierte Töten andererseits. Leider erkennen sie in den religiösen Haltungen nicht die tiefste Verdrängung und Tabuisierung.