In Zungen reden

/ Haimo L. Handl

Kürzlich war ich bei einer speziellen Literaturveranstaltung in Wien. Es lasen Autorinnen und Autoren aus Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Österreich. Alle nicht deutschsprachigen Texte waren extra für diese Veranstaltung übersetzt worden und wurden auf deutsch vorgelesen. So hatte man die Möglichkeit, die Texte in ihrer Originalfassung zu hören. Auch wenn man nicht die Sprache spricht, vermittelt einem der Vortrag ein Klangbild, das sich dann nachträglich verdichtet, wenn man durch das Anhören der Übersetzung nun auch den Sinn versteht.

Das Ganze nimmt natürlich etwas Zeit in Anspruch und verlangt einiges an Hör- und Denkenergie des Publikums. Weil das wahrscheinlich viele vermutet haben, sind nur wenige gekommen. Aber die Qualität der beiden Abende war deshalb nicht gemindert.

Die übliche Lingua franca, Englisch, kam hier nicht zum Einsatz; sie wurde auch nicht vermisst. Da die wenigen anwesenden ‘Westler’ nicht die frühere östliche Lingua franca, das Russische sprechen, fehlte auch diese. Es war wie in der Europäischen Union ohne englisches Sprachdiktat: die heimischen Sprachen wurden gesprochen und übersetzt.

Mich faszinierte diese Übung. Sie zeigte eine Reichhaltigkeit, die mir vom Klang schon etwas gab. Es war wie wenn man teure, kostbare Teppiche ansieht, die Muster aber nicht wirklich versteht, weil einem das Hintergrundwissen fehlt. Aber trotzdem kann man Unterschiede ausmachen und sich an Formen, Mustern, Farben freuen. Auch der fremde Klang hat seine verführerische Schönheit.

In der Literatur geht es, anders als in der (reinen) Musik, um Verständigung, um ‘Botschaften’. Da reicht die Freude am Klang nicht aus. Was bei konkreter Poesie, der sound poetry noch hingehen mag, wird hier zum Manko. Doch lässt sich alles übersetzen. Und wer die Mühe nicht scheut, übersetzt, überträgt. Der Vollzug ist möglich.

Es wird oft bedauert, dass in Europa so viele verschiedene Sprachen herrschen. Schnöde wird auf die Kostenseite verwiesen. In keinem Staatenverbund stehen so hohe Übersetzungskosten an wie in der Europäischen Union. Viele Mitgliedsländer muten ihren Bürgerinnen und Bürgern zu, gleich in der Lingua franca zu sprechen und zu schreiben, um sich günstigere Ausgangspositionen zu verschaffen. Entgegen den vordergründigen Versicherungen der Gleichheit aller Sprachen bzw. ihrer wertvollen Bestandssicherung, werden Anträge für Projekte oder Förderungen, die in der Muttersprache verfasst sind, z.B. in Tschechisch oder Deutsch, wenn überhaupt, dann langsamer ‘bearbeitet’. Die Chancen, dass die Gremialfunktionäre, die nur zwei, vielleicht drei ‘Hauptsprachen’ sprechen, sich mit Übersetzungen abmühen, ist gering. So leistet die Union über ihre Bürokraten und unachtsamen Politiker der Standardisierung und Vereinheitlichung Vorschub und zementiert das Regime einer dürftig gewordenen Lingua franca.

Fast zum Ausgleich, zur zynischen Abspeisung, geraten da jene Kulturveranstaltungen, wo man die Unterschiedlichkeit und Eigensprachlichkeit hervorkehrt. Da lob ich mir den ‘selbstverständlichen’ Sprachumgang mit der eigenen Sprache und einigen anderen. Gerade in Europa geniesse ich mit den vielen Sprachen auch die vielen Kulturen, die noch nicht reduziert sind auf die ökonomisch profitable Stereotypie und Einfachheit.

Es wäre begrüssenswert, wenn in ORF-Interviews Ungarn ungarisch, Tschechen tschechisch und Isländer isländisch redeten. Für alle Sprachen gibt es Übersetzer. Auch das Englische muss übersetzt werden, weil nur eine kleine Minderheit es bei uns wirklich versteht. Aber der ORF will, wie so oft, am falschen Ort Geld sparen und hilft damit, die bornierte Ausrichtung auf die Lingua franca zu verstärken. Er hilft mit, die hohe sprachliche, kulturelle Komplexität Europas zu reduzieren.

Dieser dummen Haltung kommt ein Grossteil des Publikums entgegen. Vermutlich hängt es mit der eigenen geringen Sprachsozialisation zusammen. Da Denglisch so stark geworden ist, erfahren die Halbgebildeten billig ihr Erfolgserlebnis, wenn im Radio zum radebrechenden English des Ungars oder Türken das Denglisch der ORFlerin oder des ORFlers kommt. Man trifft sich auf einer reduzierten dritten Ebene. Die Latten sind gesenkt, damit alle Gewinner werden (win-win-situation).

Ich plädiere für die eigenen Sprachen und Übersetzungen aus diesen. Als zweites bietet sich an, nicht nur English zu lernen oder gelernt zu haben.