Literarische Formen und andere

/ Haimo L. Handl

Zuerst wirkt Äusseres ein. Formt. Der Individuationsprozess ist ein Bilden von Eigenem als Gegengewicht, als innere Form gegen das Äussere. Der Mensch ist nicht voraussetzungslos, ist nicht und schafft nicht aus dem Nichts. Immer ist schon etwas. Das Verhältnis des Äusseren, seines Einwirkens, und dem Inneren, dem Eigenen, macht das Individuum, die Persönlichkeit aus.

Kürzlich folgte ich einer Einladung zu einer Schreibwerkstatt und debattierte mit Schreibenden. Weniger über handwerkliche Technik, als Grundfragen zur literarischen Tätigkeit. Weshalb schreibt wer was? Wie verstehen sich die Schreibenden als Autorinnen oder Autoren? Kreieren sie oder berichten, dokumentieren sie? Sind sie Rapporteure, Buchhalter, Dokumentaristen, Datensammler, Monteure, Kompilatoren? Oder sind sie Schriftsteller, Ingenieure, Dichter? Wer hat sich gefragt und beantwortet, weshalb, warum sie oder er schreibt? Zeitvertreib? Mitteilungsbedürfnis? Therapie durch Sinnstiftung? Kunst als Religionsersatz? Ausdruck von Engagement und Gutmenschlertum?

Vor wenigen Tagen war der russische Schriftsteller Andrej Bitow in Wien zu Besuch und las aus seinem berühmtesten Werk ‘Das Puschkinhaus’, das zuerst in den USA erschienen ist, dann 1983 deutsch und erst später in seiner Heimat auf russisch. Bitow, 1937 in Leningrad (heute wieder St. Petersburg) geboren, ist ein Autor, der kreiert, der etwas zu sagen hat. Er ist kein Berichterstatter. Er sieht sich eher in der Tradition Tschechows, hat Hoffnung und kennt Scham, was er seinen Figuren verleiht. Eine andere Welt als die eines Dostojewski oder der lauten, wüsten und obszönen Schreier von heute.

Ich weiss nicht, wie intensiv Bitows Werke rezipiert werden. Er entspricht nicht dem gängigen Rollenbild des Schreibers als Nicht-Autor. In der Postmoderne hat der Autor seinen Tod gefunden, ähnlich, wie die Literatur in den späten Sechzigern des vorigen Jahrhunderts für tot erklärt worden war - von Literaten, die teils heute noch als Literaten die Öffentlichkeit bedienen.

Die wenigen Autoren, die ausscheren und ihr eigenes Profil bewahren, so sie es je gezeichnet haben, haben es nicht leicht am Markt. Es scheint, als ob die wachsende Zahl von Schreibwerkstätten und Schriftstellerkursen in Universitäten bzw. Dichterakademien in disproportionalem Verhältnis zur Zahl eigenständiger Literaten steht. Es scheint, als ob es viele Textzulieferer für den literarischen Markt gibt, deren Produkte gewissen Kriterien genügen, am globalisierten Markt leichter verschoben werden können, weil ein- und anpassbar, weil leichter ‘übersetzbar’. Eine gewisse Ähnlichkeit, Gleichheit macht sich breit, die auch durch die Präsentation (Verpackung) nicht überdeckt wird.

Wenn man den literarischen Feuilletons folgt oder gewissen Talk-Shows wie dem ‘Literarischen Club’, hört man einerseits dieses Bedauern des Fehlen von Einzigartigkeit, andererseits das Wohlbehagen mit den gelieferten Produkten, mit dem gut laufenden Kulturmarkt, dessen Teil solche Sendungen oder Zeitungsseiten sind.

Oft wird erwähnt, auch Bitow meinte das verständnisvoll gegenüber seinen zeitgenössischen, jungen Autoren, dass Schriftsteller es heute schwerer haben als früher. Meist belässt man es bei der Feststellung und forscht nicht weiter, weshalb, liefert keine Belege. Da stoppt die Beobachtung und Auswertung.

Ist die ‘Reizüberflutung’, die man allerorten feststellt, daran schuld? Wer zwingt wen, dauernd die Hörstöpsel in den Ohren zu tragen, permanent übers Handy Filmchen zu sehen und Pseudoinformationen als Informationen zu verwechseln? Wer hält von Lektüre ab und belohnt das Ablesen von Schlagzeilen? Wer schlägt wem was aufs Hirn und vor die Augen und den Sinn? Wer jammert, dass er nicht dazu komme, keine Zeit finde? Wozu und Wofür?

Das Geschwätz und Gejammer ist bekannt und nicht neu. Die Hinweise, dass gewisse (unbedachte) Verhaltensweisen leicht zu negativen oder ‘unerwünschten Nebenwirkungen’ führen, war schon früher Hellsichtigen klar. Friedrich Nietzsche notierte Gedanken in den Achtzigerjahren des vorvorigen Jahrhunderts, die heute Gesundheitsbewusste und Fitness-Aktive ansprechen könnten, ebenso wie Wissenschaftler, Politiker und Manager, würden sie gelesen und bedacht werden:

‘… die Fülle disparater Eindrücke größer als je: - der Kosmopolitismus der Speisen, der Literaturen, Zeitungen, Formen, Geschmäcker, selbst Landschaften. Das Tempo dieser Einströmung ein Prestissimo; die Eindrücke wischen sich aus; man wehrt sich instinktiv, etwas hereinzunehmen, tief zu nehmen, etwas zu ‘verdauen’; - Schwächung der Verdauungskraft resultiert daraus. Eine Art Anpassung an diese Überhäufung mit Eindrücken tritt ein: der Mensch verlernt zu agieren; er reagiert nur noch auf Erregungen von außen her. Er gibt seine Kraft aus teils in der Aneignung, teils in der Verteidigung, teils in der Entgegnung. Tiefe Schwächung der Spontaneität: - der Historiker, Kritiker, Analytiker, der Interpret, der Beobachter, der Sammler, der Leser, - alles reaktive Talente, - alle Wissenschaft!’

Adorno und andere haben das mit- und weitergedacht. Valéry war in ähnlichen Denkbahnen bezüglich der allgegenwärtigen Verfügbarkeit medialer Produkte und Kommunikationen. Das alles, bevor es den Computer und das Internet gab. Aber schon die Ausrichtung darauf. Nämlich die extreme Hinwendung zum Äusseren, die Unterwerfung unters Faktische (das Adorno so scharf kritisierte!), das Akzept der ‘Sachzwänge’, der vorauseilende Gehorsam und die Einfügung in die Herde, die allgemeine, die politische, die konsumistische (die sich ja bedingen und ergänzen).

Das sind Gedanken, die nicht nur Autorinnen Stoff bieten, sondern auch Lesern. Allen, die denken. Wie steht’s mit der geistigen Verdauung, welche Formen formen? Und sind mir noch angenehm dabei?