Sehnsucht nach dem Zukunftsverfall

/ Haimo L. Handl

Am 7. Juni d. J. erscheint Lettre International 121 zum 30-jährigen Jubiläum. Mit 188 Seiten ist es ein starkes Heft. Laut Ankündigung soll es auch inhaltlich ein starkes sein. Beim Lesen des Verlagshinweises für das ‘Geburtstagsfeuerwerk’ wächst in mir ein Staunen über die geschulte, smarte Werbesprache und ihre Versprechungen, die sich wie ein Zeitmerkmal, ein Zeitspiegel von Möglichkeiten und Unmöglichkeiten lesen.

100 Autoren und Künstler aus aller Welt haben zu dem 188 Seiten umfassenden Heft beigetragen. Tobias Rehberger, Träger des ‘Goldenen Löwen’ der Biennale Venedig 2010, bringt das Heft mit einem spektakulären Titelbild in Schwung: Eine grenz- und kulturüberschreitende Aktualisierung des sozialistischen ‘Bruderkusses’ zwischen Leonid Breschnew und Erich Honecker von 1979. Fünfzig weitere Künstler, darunter Robert Longo und Lawrence Weiner, Miquel Barceló, Ai Weiwei, Shang Yang, Dieter Appelt, Barbara Breitenfellner, Martin Assig, Gunter Rambow, Hans Hansen, Mark Lammert, Valérie Favre, Daniel Schwartz, Max Grüter, Jan Fabre, Juan Manuel Castro Prieto, Cristina García Rodero, Konstantin Skotnikov, Gueorgui Pinkhassov, Quentin Bertoux, Denis Dailleux, François Fontaine, Dodi Reifenberg, Ayumi Tanaka, Minoo Emami, Ewa Einhorn und viele andere sind mit Zeichnungen, Malereien, Collagen, Photographien dabei.

Namen als Programm, als Qualitätsausweis. Die Leserin mag prüfen, welche sie kennt und bei Unkenntnis auf Bildungslücken schließen. Staunen. Ich stelle mir vor, dass man Texte fabrizieren könnte, die nur noch aus Namen bestehen, weil die Eingeweihten, die Esoteriker, sofort wissen, wer wofür steht. Names become triggers.

Adam Sjatu. Fomtam P’Toole, Gini Alhadeff, Time Page, Tim Parks, Ervand Abrahamian, Alec Asshj, Robert G. Kaiser, Helen Epstein, Edward Ziff, Michael Casper, Israel Rosenfield, Garry Wills, Marina Warner, Garry Wills, Jacob Weisberg, Kathryn Hughes, Alexander Waugh, Perry Link, Darryl Pinckney, Ruth Margalit, Sanford Schwarz, Daniel Schwarz, Louisa Chiang, James Buchan, Carl Ewlliott, David Z. Albert, Mitchell Abidor, Atossa Araxia Abrahamian, Esther Allen, Lisa Appignanesi, Leon Aron, Bernard Avishai, Tareq Baconi, Colin B. Bailey, Anthony Barnett, Liza Batkin, Felix Bazalgette, Christopher Benfey, Viken Berberian, Richard Bernstein, Jeremy Bernstein, Sarah Birke, Sarah Boxer, Reah Bravo, Kevin Bubriski, Madeleine Bunting, Ian Buruma, Alex Carp, Shawn Carrié, Christopher Carroll, Melissa Chadburn, Jennifer Cobbe, Andrew Cohen, David Cole, Molly Crabapple, Adam Dalva, Ernst Weiß, Ruidolf Borchardt, Paul Lagerfeld, Ernst Meister, Tom Stoppard, Eleanor Davis, Robin Dembroff, Alexander Döblin, Robert Darton, Daniel C. Dennett, Richard Dworkin, Morris Dickstein, Lawrence Donegan, Donald Trump, James Bolton, Henry Bolton, C. G. Alt, C. G. Jung, Sigmund Freud, Willibald Zimmermann, Ariel Dorfman, Marcia Douglas, Tony Judt, Claudia Dreifus, Anastasia Edel, Conrad Joseph, Martin Filler, Liana Finck, Genevieve Fox, David Fratkin, Friedrich Torberg, Günther Nenning, Kurt Desch, Manfred Fuhrmann, Anna Furman, Philip Geftere, Mark Gevisser, Todd Gitlin, Colin Grant, Mark Greenberg, Sue Halpern, Hannah Arendt, Günter Stern, Bernard E. Harcourt, Zack Hatfield, J. Hoberman, Leo Castelli, Lennox Honychurch, Nell Irvin Painter, Noah Isenberg, Pico Iyer, Gideon Jacobs, Roman Jacobsen, William Morris, Lucy Jakub, James Michener, Marlon James, Joshua Jelly-Schapiro, Ian Johnson, Jennifer Kabat, Jammie Smith, Mira Kamdar, Zbignew Herbert, Robert E. Kelly, James Kirchick, Michael Friedmann, Stephanie Land, Hallie Lieberman, Uschi Glas, Jean Amery, Mary McCarthy, Edmund Wilson, George Steiner, Arthur Koestler, Danny Lyon, Pesha Magid, Mathieu Magnaudeix, Ortega y Gasset, Karl Löwith, Jürgen Habermas, Marshall McLuhan, Alia Malek, Kenan Malik, Riccardo Manzotti, Riccardo Muti, Ruth May und viele, viele andere. Man muss sich das über mindestens ein Dutzend Seiten vorstellen. Phantastisch! Man wünscht sich Kataloge wie alte, dicke Telefonbücher. Nomen est omen.

Es erwarten Sie: Hintergrundanalysen [also Analysen des Hintergrundes], Essays, Plädoyers, Bekenntnisse, Meditationen, Tiefengespräche zu hochaktuellen Themen [weshalb ‚tief‘? Breitgespräche, die hoch-aktuell sind, also hoch, weil ‘aktuell’ nicht ausreicht für eine Vierteljahreszeitschrift]. Eine Geschichte der Neugier. Tierische Intelligenz. Glanz und Elend des Zeitungsjournalismus. Nachrichtenbusiness in digitalen Zeiten. Eine kurze Geschichte von ARTE. Geschlechterturbulenzen. Fragile Territorien des Begehrens. Tropischer Surrealismus. Die Pornographie in unserem Leben [Sogar die Nekrophilen frönen lebendig im Leben ihrer Perversion. Wo und wann sonst als im Leben soll Pornographie sein und gepflegt werden?]. Zivilisationsdiagnosen. Die Suche nach dem Ereignis [O je! Es reicht offenbar das pure Ereignis, die bloße Aktivität, jenseits allen Inhalts, Anlasses und aller Beteiligten. Der neue Purismus international]. Zeiterfahrungen. Kunst und Menschlichkeit. Kunst und Käuflichkeit. Kunst und Mode. [Nicht zu vergessen: Kunst als Nichtkunst, Kunst und Geschäft, Kunst und Betrug, Kunst und Einsamkeit, Kunst und die Haute Cuisine]. Einsamer Ruhm [Klischee: Ruhm ist nie einsam, er kann einsam machen, das trifft aber nur die Schwachen. Die starken Ruhmreichen sind nie einsam]. Japanische Holzschnitte. Der Bruch zwischen Stalin und Tito. [Die Freundschaft zwischen Hitler und Stalin. Die Feindschaft zwischen Hitler und Stalin. Stalin der Ruhmreiche. Stalin der Einsame] Geschichten aus Chinas Gefängnissen. [Neu: Pornographie im Leben der chinesischen Gefangenen]. Gefechte der Gegenwart. [Ergänzung: Gefechte in der Gegenwart. Die Vergangenheit als Gefechtseinsatz gegen die Gegenwart. Die Zukunft als Vergangenheit – letzte Gefechte]. Die Größe Nelson Mandelas. Großprojekte ohne Plan [Mit Beispielen aus Deutschland: Berlin, Stuttgart, Hamburg]. 1984 und Neurologie. Zwei Geometrien des Gehens. Gangsterpolitik. Österreichische Metaphysik [Schon wieder! Wann hört das endlich auf?]. Ein düsteres Tagebuch von Jean Moulin, dem späteren Leiter der französischen Résistance, aus dem Jahre 1940: Erster Kampf.

Dass sogar ein Poem hoch, tief und breit politisch sein kann, wird uns ebenfalls angezeigt:

Das Poem der libanesischen Dichterin und Künstlerin Etel Adnan Während Wale nach Norden schwimmen entwirft das Szenario einer in Brand geratenen Kultur, Haß liegt in der Luft und der Gestank verbrannter Pferde greift um sich. Eine apokalyptische Vision der Rache für jene Gewalt, die der Westen anderen angetan hat.

Ein Beitrag zum tieferen und höheren Verständnis der islamischen Rache an den immerwährenden Verbrechen des Westens. Der Westen, ja, schrecklich, schlimm, barbarisch. Die jetzt Hassenden können nicht anders, sind konditioniert, sind getrieben, sind gezwungen. Sie nehmen Rache und brauchen unsere Hilfe. Helft den Rächern!

Der französische Philosoph Marcel Hénaff sieht den Wissensdrang heutzutage auf einem Intensitätsniveau, welches sogar die Größenordnung der Revolution des Buchdrucks übersteigt. In seiner ‘kurzen Geschichte der Neugier’ stellt er fest, daß heute ein potentiell unabhängiges System kognitiver Innovation entstanden ist. Es ist, als ob das Verlangen nach Wissen in die Maschine selbst, in einen Algorithmus übersetzt worden sei; wir haben es von nun an mit einer sich verselbständigenden Neugier-Maschine zu tun.

Das ist steil und geil. Die Maschinen selbst sind nun neugierig und generieren Wissen, das sie wiederum neugieriger macht. Dieser Prozess ist ‘potentiell unabhängig’. Super. Endlich sind sie (die Maschinen) soweit.

Jetzt folgt eine Ankündigung, die es in sich hat. Diesen Beitrag werde ich mir ganz nahe und genau vornehmen: