Facebook & Unbildung

/ Haimo L. Handl

Facebook ist nicht nur die größte und effektivste Datenmissbrauchsmaschine, ein gigantisches Geschäft, sondern auch eine politische Waffe im gezielten Missbrauch von Milliarden von User Data. Der weitaus wichtigste Aspekt liegt aber in der Verdinglichung, der Verstärkung des Verblendungszusammenhangs, des sozialen Betrugs in der extremen Ausrichtung auf Quantität(en). Quantität hat jedwede Qualität ersetzt.

Facebook ist nicht nur die größte und effektivste Datenmissbrauchsmaschine, ein gigantisches Geschäft, sondern auch eine politische Waffe im gezielten Missbrauch von Milliarden von User Data. Der weitaus wichtigste Aspekt liegt aber in der Verdinglichung, der Verstärkung des Verblendungszusammenhangs, des sozialen Betrugs in der extremen Ausrichtung auf Quantität(en). Quantität hat jedwede Qualität ersetzt. Insbesondere Unterschichtler finden in der Belohnungsmaschinerie durch Massenbestätigung bzw. Anhäufen von ‘Freunden’ ihre stündliche Bestätigung, was sie noch mehr dazu verführt, ihre Isolation, ihre Abhängigkeit bzw. Süchtigkeit zu übersehen und sich anerkannt, ‘geliked’ (schon das Unwort desavouiert) zu fühlen, eingepasst in die sich dauernd beschleunigende Tretmühle, den ewigen Wettkampf, den Kampf um den Platz an der Sonne, der durchdringenden Konkurrenz, die jeden, der nicht Erster, vielleicht noch Zweiter oder Dritter ist, als Versager, als Verlierer ausmustert.

Was hat das mit Bildung bzw. Unbildung zu tun? Sehr viel und wesentlich. Die leichte Lenkbarkeit von Verhalten, die permanente Konditionierung, die kürzlich zu Untersuchungen in den USA geführt haben, ob das Wahlverhalten unlauter beeinflusst worden sei, ist nur deshalb überhaupt ein Problem, weil außerhalb des Konsumverhaltens, wo die fast Pawlowsche Konditionierung gefördert und unterstützt wird, im Bereich des Politischen manchmal, je nach Kräfteverhältnissen und Machtverteilungen, zu Abwehren führt, weil die Lenkung außerhalb der staatlichen oder korporativen Kontrolle erfolgt.

Der Datenmissbrauch durch Facebook ist eigentlich kein Problem, außer er führt eben zu unkontrolliertem, ungeplantem Verhalten. Immerhin sind die NSA bzw. in Großbritannien der MI5 und MI6 (Inland- und Auslandsgeheimdienst) die erfolgreichsten Datenräuber und –missbraucher weltweit. (Die Russen, die in den westlichen Medien als Teufel und Verbrecher dargestellt werden, kommen da lange nicht ran.) Der Skandal um Facebook lenkt vom eigentlichen Verbrechen ab. Der gesellschaftliche, soziale und humane Hintergrund zeigt jedoch die tieferliegende Problematik.

Wären die Massen gebildet im älteren Bedeutungssinn von Bildung, gäbe es kein so riesiges Facebook bzw. keine so trottelhafte, gleichgeschaltete Ausrichtung auf Quantitäten. Die Quantitätsorientierung ist nur durch Persönlichkeitsmangel, geringe Ichstärke bzw. Unbildung möglich. Gebildete würden in geringerer Zahl mitmachen. Gebildete würden sich kritisch äußern. Facebook aber unterminiert Kritik und eigenes Denken, es verstärkt den Herdentypus, es stärkt den Mob. Es arbeitet wie die Faschisten rechter wie linker Art (die Nazis und die Bolschewiki mussten noch krude, grobe Mittel der Beeinflussung einsetzen). Die Datenmissbraucher haben ein mediales Umfeld geschaffen, das mit geringerem Aufwand früher ungeahnt höhere Effekte erzielt. Sie haben es sogar geschafft, was ehedem als Traum der Tyrannen unerfüllt blieb, die Opfer dazu zu bringen, freiwillig mitzumachen, sich auszuliefern, die Daten zur Verfügung zu stellen.

Das ökonomische Diktat, die kurzsichtige Erfolgsorientierung der geschäftigen Politik unterstützt das alles durch ihre organisierte Unbildung. Dazu muss man den Bildungsbegriff hinterfragen und reflektieren. Was ist Bildung? Was soll Bildung sein? Ist Ausbildung gleich Bildung? Ersetzen Kompetenzen Wissen? Welche Art von Wissen wird präferiert, weshalb?

Um hier eine fundierte Position einnehmen zu können, muss man nicht die alten Schriften gelesen haben, von Wilhelm von Humboldt und andere Autoren des Neuhumanismus. Man muss auch nicht die zahlreichen Werke des 19. Jahrhunderts kennen zu Fragen der (klassischen) Bildung, wiewohl ihre Kenntnis, die vereinzelt auch heute noch anzutreffen sein mag, sicher von Vorteil ist hinsichtlich der Historie bzw. des komplexen Verstehenszusammenhangs. Oft sind es auch nicht ausgewiesene Pädagogen, Erziehungswissenschaftler oder Lehrer, sondern Philosophen oder Soziologen, die mit ihren Gedanken, Kritiken, Appellen oder Modellen Entwürfe lieferten, die ‘zu denken’ gaben.

Eine kleine, eklektische Auswahl von Persönlichkeiten:

Bis 19. Jh.:

Platon (428/427 v.Chr.-348/347 v.Chr.) Baruch de Spinoza (1632-1677) Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) Johann Bernhard Basedow (1724-1790) Immanuel Kant (1724-1804) Johann Gottfried Herder (1744-1803) Joachim Heinrich Campe (1746-1818) Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) Wilhelm von Humboldt (1767-1835) Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) Jacob Grimm (1785–1863) Wilhelm Grimm (1786–1859) Arthur Schopenhauer (1788-1860) Søren Aabye Kierkegaard (1813-1855) Friedrich Nietzsche (1844-1900)

  1. Jh.:

Sigmund Freud (1856-1939) John Dewey (1859–1952) Siegfried Bernfeld (1892-1953) Max Horkheimer (1895-1973) Theodor W. Adorno (1903-1969) Otto Friedrich Bollnow (1903-1991) Georg Picht (1913-1982) Hellmut Becker (1913-1993) Heinz-Joachim Heydorn (1916-1974) Hartmut von Hentig 1925) Wolfgang Brezinka ( 1928) Peter Bieri (* 1944)

Die Frage ‘Was ist Bildung?’ beantwortet kurz und bündig Manfred Fuhrmann (1925-2005) in seiner Schrift ‘Bildung. Europas kulturelle Identität’, einer Zusammenfassung von Vorträgen, worin er die historischen Grundlagen hinterfragt, um sich dann der gegenwärtigen Situation zu widmen (Der Bildungskanon und die Erlebnisgesellschaft) bzw. auch auf ‘Die Krise der Geisteswissenschaften’ eingeht.

Folgt man seinen Ausführungen mit wachem Denken, wird klar, wie bedeutsam die Kenntnis gewisser Schlüsselbegriffe bzw. der Konzepte und philosophischen Ansichten, der Wertestruktur, ist, um zu begreifen oder annähernd sich vergegenwärtigen zu können, was war und was ist bzw. wohin die Entwicklung weist.

Welchen Begriff teile ich bezüglich Person und Persönlichkeit, Charakter und Veränderbarkeit? Bildung ist ja ein Veränderungsvorgang. Bliebe jemand, wie er ist, käme es zu keiner Innovation, keinem Lernprozess, keiner Anpassung oder keinem Widerstand. Die Frage ist, WAS sich ändert. Heute gilt jedoch das WIE unter Ausblendung des WAS. Bildung ist kein Garant für Wohlleben. Immerhin haben die Gebildeten der Vergangenheit es nicht vermocht, die grauenhaften Kriege zu verhindern. Ja, viele haben sich pervertiert zu kriegsbegeisterten Unterstützern der Kulturvernichtung. Wie war das mit ihrer vorgeblichen Wertestruktur, dem damals geltenden Bildungskanon, möglich? Da hilft ein Blick in die Kulturtheorie von Sigmund Freud (Massenpsychologie und Ich-Analyse – 1921 – , Die Zukunft einer Illusion – 1927 – und Das Unbehagen in der Kultur – 1929-1930). Was ist Freiheit, was Gemeinschaft, Kollektiv, Gesellschaft? Wie ist letztere möglich? Wie bedingt ist der Triebverzicht für Kultur? Wie steht es um Lust und Glück? Auf welche Weise verschaffen wir uns Befriedigung (Glückserfahrung)? Was ist der Kern der Kulturfeindlichkeit?

Ein paar Zitate aus Freuds Aufsatz ‘Das Unbehagen in der Kultur’:

Aus dem Abschnitt III:

Als letzten, gewiß nicht unwichtigsten Charakterzug einer Kultur haben wir zu würdigen, in welcher Weise die Beziehungen der Menschen zuein­ander, die sozialen Beziehungen, geregelt sind, die den Menschen als Nachbarn, als Hilfskraft, als Sexualobjekt eines anderen, als Mitglied einer Familie, eines Staates betreffen. Es wird hier besonders schwer, sich von bestimmten Idealforderungen frei zu halten und das, was überhaupt kulturell ist, zu erfassen. Vielleicht beginnt man mit der Erklärung, das kulturelle Element sei mit dem ersten Versuch, diese sozialen Beziehungen zu regeln, gegeben. Unterbliebe ein solcher Versuch, so wären diese Beziehungen der Willkür des Einzelnen unterworfen, d. h. der physisch Stärkere würde sie im Sinne seiner Interessen und Triebregungen entscheiden. Daran änderte sich nichts, wenn dieser Stärkere seinerseits einen einzelnen noch Stärkeren fände. Das menschliche Zusammenleben wird erst ermöglicht, wenn sich eine Mehrheit zusammenfindet, die stärker ist als jeder Einzelne und gegen jeden Einzelnen zusammenhält. Die Macht dieser Gemeinschaft stellt sich nun als »Recht« der Macht des Einzelnen, die als »rohe Gewalt« verurteilt wird, entgegen. Diese Ersetzung der Macht des Einzelnen durch die der Gemeinschaft ist der entscheidende kulturelle Schritt. Ihr Wesen besteht darin, daß sich die Mitglieder der Gemeinschaft in ihren Befriedigungsmöglichkeiten beschränken, während der Einzelne keine solche Schranke kannte. Die nächste kulturelle Anforderung ist also die der Gerechtigkeit, d. h. die Versicherung, daß die einmal gegebene Rechtsordnung nicht wieder zu Gunsten eines Einzelnen durchbrochen werde. Über den ethischen Wert eines solchen Rechts wird hiermit nicht entschieden. Der weitere Weg der kulturellen Entwicklung scheint dahin zu streben, daß dieses Recht nicht mehr der Willensausdruck einer kleinen Gemeinschaft — Kaste, Bevölkerungsschichte, Volksstammes — sei, welche sich zu anderen und vielleicht umfas­senderen solchen Massen wieder wie ein gewalttätiges Individuum verhält. Das Endergebnis soll ein Recht sein, zu dem alle — wenigstens alle Gemeinschaftsfähigen — durch ihre Triebopfer beigetragen haben und das keinen — wiederum mit der gleichen Ausnahme — zum Opfer der rohen Gewalt werden läßt.

Die individuelle Freiheit ist kein Kulturgut. Sie war am größten vor jeder Kultur, allerdings damals meist ohne Wert, weil das Individuum kaum imstande war, sie zu verteidigen. Durch die Kulturentwicklung erfährt sie Einschränkungen, und die Gerechtigkeit fordert, daß keinem diese Einschrän­kungen erspart werden. Was sich in einer menschlichen Gemeinschaft als Freiheitsdrang rührt, kann Auflehnung gegen eine bestehende Ungerechtigkeit sein und so einer weiteren Entwicklung der Kultur günstig werden, mit der Kultur verträglich bleiben. Es kann aber auch dem Rest der ursprünglichen, von der Kultur ungebändigten Persönlichkeit entstammen und so Grundlage der Kulturfeindseligkeit werden. Der Freiheitsdrang richtet sich also gegen bestimmte Formen und Ansprüche der Kultur oder gegen Kultur überhaupt. Es scheint nicht, daß man den Menschen durch irgendwelche Beeinflussung dazu bringen kann, seine Natur in die eines Termiten umzuwandeln, er wird wohl immer seinen Anspruch auf individuelle Freiheit gegen den Willen der Masse verteidigen. Ein gut Teil des Ringens der Menschheit staut sich um die eine Aufgabe, einen zweckmäßigen, d. h. beglückenden Ausgleich zwischen diesen individuellen und den kulturellen Massenansprüchen zu finden, es ist eines ihrer Schicksalsprobleme, ob dieser Ausgleich durch eine bestimmte Gestaltung der Kultur erreichbar oder ob der Konflikt unversöhnlich ist.

Die Triebsublimierung ist ein besonders hervorstechender Zug der Kulturentwicklung, sie macht es möglich, daß höhere psychische Tätigkeiten, wissenschaftliche, künstlerische, ideologische, eine so bedeutsame Rolle im Kulturleben spielen. Wenn man dem ersten Eindruck nachgibt, ist man versucht zu sagen, die Sublimierung sei überhaupt ein von der Kultur erzwungenes Triebschicksal. Aber man tut besser, sich das noch länger zu überlegen. Drittens endlich, und das scheint das Wichtigste, ist es unmöglich zu übersehen, in welchem Ausmaß die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist, wie sehr sie gerade die Nichtbefriedigung (Unterdrückung, Verdrängung oder sonst etwas?) von mächtigen Trieben zur Voraussetzung hat. Diese »Kulturversagung« beherrscht das große Gebiet der sozialen Beziehungen der Menschen; wir wissen bereits, sie ist die Ursache der Feindseligkeit, gegen die alle Kulturen zu kämpfen haben.

Man vergleiche vielleicht mit einer Überlegung von Friedrich Nietzsche (Zitat aus ‘Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten’, 5. Rede; 1872):

Es hat etwas Unheimliches, den Wirkungen nachzudenken, zu denen die gewaltsame Unterdrückung so edler Bedürfnisse führen muß. Wer die gefährlichsten Förderer und Freunde jener von mir so gehaßten Pseudokultur der Gegenwart in der Nähe und mit durchdringendem Auge mustert, findet nur zu häufig gerade unter ihnen solche entartete und entgleiste Bildungsmenschen, durch eine innere Desperation in ein feindseliges Wüthen gegen die Kultur getrieben, zu der ihnen Niemand den Zugang zeigen wollte. Es sind nicht die schlechtesten und die geringsten, die wir dann als Journalisten und Zeitungsschreiber, in der Metamorphose der Verzweiflung, wiederfinden; ja, der Geist gewisser jetzt sehr gepflegter Litteraturgattungen wäre geradezu zu charakterisiren als desperates Studententhum. Wie anders wäre z.B. jenes ehemals wohlbekannte ‘junge Deutschland’ mit seinem bis zum Augenblick fortwuchernden Epigonenthum zu verstehen! Hier entdecken wir ein gleichsam wildgewordenes Bildungsbedürfniß, welches sich endlich selbst bis zu dem Schrei erhitzt: ich bin die Bildung. Dort, vor den Thoren der Gymnasien und der Universitäten, treibt sich die aus ihm entlaufene und sich nun souverän gebärdende Kultur dieser Anstalten herum, freilich ohne ihre Gelehrsamkeit: so daß z.B. der Romanschreiber Gutzkow am besten als Ebenbild des modernen, bereits litterarischen Gymnasiasten zu fassen wäre. Es ist eine ernste Sache um einen entarteten Bildungsmenschen: und furchtbar berührt es uns, zu beobachten, daß unsre gesammte gelehrte und journalistische Öffentlichkeit das Zeichen dieser Entartung an sich trägt. Wie will man sonst unseren Gelehrten gerecht werden, wenn sie unverdrossen bei dem Werke der journalistischen Volksverführung zuschauen oder gar mithelfen, wie anders, wenn nicht durch die Annahme, daß ihre Gelehrsamkeit etwas Ähnliches für sie sein möge, was für jene die Romanschreiberei, nämlich eine Flucht vor sich selbst, eine asketische Ertödtung ihres Bildungstriebs, eine desperate Vernichtung des Individuums. Aus unserer entarteten litterarischen Kunst ebensowohl als aus der in’s Unsinnige anschwellenden Buchmacherei unserer Gelehrten quillt der gleiche Seufzer hervor: ach, daß wir uns selbst vergessen könnten! Es gelingt nicht: die Erinnerung, durch ganze Berge darübergeschütteten gedruckten Papiers nicht erstickt, sagt doch von Zeit zu Zeit wieder: ‘ein entarteter Bildungsmensch! Zur Bildung geboren und zur Unbildung erzogen! Hülfloser Barbar, Sklave des Tages, an die Kette des Augenblicks gelegt und hungernd — ewig hungernd!’

‘Der Sklave des Tages’ ist heute ein Sklave der Stunde, ja der Minute geworden, verdrahtet, vernetzt, total kontrolliert und überwacht, sich frei dünkend in der organisierten ‘Freizeit’, aber durch und durch ‘betreut’ (erinnert sich wer an das Buch ‘Aus dem Wörterbuch des Unmenschen’ von Sternberger, Storz und Süskind?), verplant für die Vernutzung.

Falls jemand eine mittlere oder höhere Schule absolviert hat, wurde ihm nichts vermittelt, was dem früheren Bildungskanon entspricht (Fuhrmann hat das übersichtlich dargelegt). Heute begehren Eltern wie Schüler auf, wenn Forderungen an die Schüler gestellt werden, die über den Spaßmoment hinaus Arbeit bedingen und verlangen. Kürzlich, noch im April 2018, startete ein so gefördertes Wohlstandskind eine Petition, die innert kürzester Zeit die Unterstützung von 30.000 Leidensgenossen fand gegen eine, wie er und die Masse der Überforderten meinten, zu schwierige Abiturprüfung in Englisch.

Abiturprüfung zu schwierig: Rund 30.000 unterschreiben Petition gegen Englisch-Prüfung, ScienceFiles, 23.4.2018

Baden-Württemberg Schüler starten Petition gegen Englisch-Abi - und sammeln 28.000 Unterschriften. War das Englisch-Abitur in Baden-Württemberg zu schwer? Mit einer Petition wehren sich Schüler gegen die ‘unfaire Prüfung’ - und finden Tausende Unterstützer. DER SPIEGEL online, 23.4.2018

Die vermeintliche Überforderung verdeckt eine tieferliegende Intellektuellenfeindlichkeit, eine Abscheu vor dem Denken. Sie korrespondiert auch zum Vereinzelungsgrad einer entfremdeten Gesellschaft, wo Leistung sofort zum Gewinn führen muss, wo man mit geringstem Aufwand höchsten Ertrag (Anerkennung, Preis) zu erzielen vermag. Die Masse, Meute, Plebs der Neuzeit formiert sich in den social media, wo sie in ihren dichten Echokammern sich abschirmen gegen Außen, soweit dieses Außen nicht liefert, was ihren Lustgewinn möglichst direkt erfüllt.

In einem Aufsatz aus dem Jahr 1960, ‘Der Mensch in der Wandlung seit der Jahrhundertwende’ von Max Horkheimer heißt es:

Mit dem Schrumpfen der Innerlichkeit entschwindet auch die Freude an der eigenen Entscheidung, an Bildung und Phantasie. Andere Neigungen und Ziele kennzeichnen die Menschen dieser Zeit: technische Geschicklichkeit, Geistesgegenwart, Lust an der Herrschaft über Apparaturen, das Bedürfnis nach Eingliederung, nach Übereinstimmung mit der großen Mehrheit oder einer als Modell gewählten Gruppe, deren Regel an die Stelle eigenen Urteils tritt. Anweisungen, Rezepte, Leitbilder treten anstelle der moralischen Substanz.

Es klingt, als habe er damals schon in einer Voraussicht die blöden, sturen, stumpfen smart phone user gekennzeichnet, dessen Kompetenz des Mediengeräteumgangs von den pervertierten Pädagogen belobigt wird, als ob so eine Kompetenz Bildung sei oder je sein könne. Der entscheidungslose Mensch, nicht unverwandt dem ‘Mann ohne Eigenschaften’, dem Mitläufer, dem Wendehals, dem infantilen Narziss, giert nach Bestätigung, und die social media liefern sie ihm umstandslos sofort. Das verfestigt die Unbildung und Unkultur.

Proteste von sich überfordert fühlenden Studenten, die heute gendergerecht ‘Studierende’ genannt werden sollen, auch wenn sie nicht studieren, gab es immer wieder. Die zuständigen Behörden nivellieren zwar dauernd, aber offensichtlich zu gering. Welche Ironie, dass zur gleichen Zeit die weltgrößte Industriemesse in Hannover stattfindet, welche die Kanzlerin stolz eröffnete und von Expertise und Wissen schwätzte, während die Studenten wehleidig jammern und mehr Zeit für ihre Anliegen des ‘wirklichen Lebens’ wollen. Da liest sich ein Aphorismus von Nietzsche zur ‘Vernunft in der Schule’ (Menschliches, Allzumenschliches, I/265) ganz anders:

Die Vernunft in der Schule. - Die Schule hat keine wichtigere Aufgabe, als strenges Denken, vorsichtiges Urtheilen, consequentes Schliessen zu lehren: desshalb hat sie von allen Dingen abzusehen, die nicht für diese Operationen tauglich sind, zum Beispiel von der Religion. Sie kann ja darauf rechnen, dass menschliche Unklarheit, Gewöhnung und Bedürfniss später doch wieder den Bogen des allzustraffen Denkens abspannen. Aber so lange ihr Einfluss reicht, soll sie Das erzwingen, was das Wesentliche und Auszeichnende am Menschen ist- ‘Vernunft und Wissenschaft des Menschen allerhöchste Kraft’ - wie wenigstens Goethe urtheilt. - Der grosse Naturforscher von Baer findet die Ueberlegenheit aller Europäer im Vergleich zu Asiaten in der eingeschulten Fähigkeit, dass sie Gründe für Das, was sie glauben, angeben können, wozu Diese aber völlig unfähig sind. Europa ist in die Schule des consequenten und kritischen Denkens gegangen, Asien weiss immer noch nicht zwischen Wahrheit und Dichtung zu unterscheiden und ist sich nicht bewusst, ob seine Ueberzeugungen aus eigener Beobachtung und regelrechtem Denken oder aus Phantasien stammen. – Die Vernunft in der Schule hat Europa zu Europa gemacht: im Mittelalter war es auf dem Wege, wieder zu einem Stück und Anhängsel Asiens zu werden, - also den wissenschaftlichen Sinn, welchen es den Griechen verdankte, einzubüssen.

Wir Europäer afrikanisieren uns, während die von Nietzsche etwas abschätzig bewerteten Chinesen zur bestimmenden Macht werden bzw. geworden sind, nicht zuletzt aufgrund ihres straffen Schul- und Bildungssystems. Kürzlich vernahm ich in einer Doku über chinesische Investitionen in afrikanischen Staaten einen Manager, der die immensen Probleme betonte, die sich den Chinesen stellen, weil es keine kompetenten, ausgebildeten Arbeiter gäbe, keine Effizient, keine annehmbare Produktivität. [Das ist kein wissenschaftlicher Befund, nur eine Überlegung oder Illustration!]

Die Zerstörung des Bildungskanons, die Abkoppelung von der Kulturtradition, die extreme Partikularisierung und Fragmentierung macht nicht nur den Einsatz von immer mehr Schriftgelehrten als Experten nötig als ‘Erklärer’, sondern lässt auch den Zitatenapparat anschwellen, weil auf fast nichts mehr gebaut werden kann. Manfred Fuhrmann hat dies in seiner erwähnten Schrift so kommentiert:

Die allgemeine Tendenz der Einebnung, von der Mehrheit der Bevölkerung bereitwillig hingenommen, hat nicht nur die Konsumgewohnheiten des Alltags, die der Nahrung oder der Kleidung usw., sondern auch das Freizeitgebaren ergriffen, in dem Sinne, dass selbst die Option für dieses oder jenes ‘Schema’, für die Hochkultur- oder die Trivialsphäre, weithin auf individueller Wahl beruht. Die nivellierte Massengesellschaft der Gegenwart unterscheidet sich im Bereich der Bildung hauptsächlich dadurch von der bürgerlichen, der kompetitiven Gesellschaftsform, dass sie sich des humanistischen Gymnasiums und damit der wichtigsten Voraussetzung des Zugangs zum einstigen Kanon entäußert hat. Die Verdrängung der reinen Bildungsfächer zog bald auch die Beschäftigung mit der muttersprachlichen Literatur in Mitleidenschaft. Die bürgerliche Bildung hat hauptsächlich auf dem Studium von Sprachen und der Beschäftigung mit Literatur beruht(…) Der Wegfall der alten Sprachen und Literaturen sowie der festen Lektürelisten im Deutschunterricht hat daher dem bürgerlichen Kanon den Kern genommen(.) Der bürgerliche Kanon war keine Ansammlung beliebiger, je für sich stehender Bereiche. Er war ein Ganzes, eine Struktur, ein Kosmos; seine Teile hingen miteinander zusammen und waren miteinander verbunden. Die pädagogische Komponente des Kanons ist großenteils verschwunden, und geblieben ist in der Hauptsache ein Vergnügungspark [= Spaßkultur] von allerlei Kunstgenüssen. (…) Im Übrigen ist man bestrebt, an Ort und Stelle auszugleichen, was das lesende, Theater besuchende oder historische Stätten bereisende Publikum nicht mehr von der Schulbank mitbringt: Die modernen Ausgaben selbst deutscher Klassiker enthalten oft Wort- und Sacherklärungen; die Programmhefte für Schauspiele und Opern bemühen sich, den Besuchern die Sujets und deren künstlerische Formung nahe zu bringen; in den Museen, Schlössern und Kirchen stehen kundige, keineswegs nur auswewndig Gelerntes aufsagende Führer bereit usw. Einst waren es wenige, die sich den ganzen Kanon gründlich zu eigen gemacht hatten; jetzt sind es viele, die sich mehr oder weniger oberflächlich auf einen Teil davon einlassen. Dieser Teil aber ist dem heutigen Publikum nicht mehr vollauf aus sich heraus selbst verständlich – daher hat auch bei ihm, wie bei dem anderen Teil, dem Gymnasium, das Prinzip der Allgemeinheit Einbußen erlitten(.)

Für eine gebildete, fundiert kultivierte Auseinandersetzung fehlt das (Kontext)Wissen; der Zwang zur Andeutung, zum Klischee als Sinnsubstitut gilt als gegeben und unumgänglich: besonders eingepasste Pädagogen, Lehrer und Kulturvermittler sind ja stolz darauf, ihr Publikum, ihre Klientel dort abzuholen, wo sie sich befinden, möglichst ohne jede Barriere (Es gilt Barrierefreiheit!), was die Nivellierung und Anpassung ans Unbedarfte, Ungebildete, bestenfalls Halbgebildete nicht nur nach sich zieht, sondern programmatisch fordert.

George Steiner (* 1929, amerikanischer Literaturwissenschaftler, Philosoph, Kulturkritiker mit langer Lehrtätigkeit in europäischen Ländern), der sich intensiv mit Kultur, Literatur und Bildung auseinandergesetzt hat, schrieb in einem frühen Aufsatz ‘To civilize our gentlemen’(1965) am Beispiel des Studiums englischer Literatur von denselben Problemen, wie sie Fuhrmann anschnitt. Er führt zu Beginn drei Aspekte an, drei Ausgangsbasen, Annahmen, die er hinterfragt: ‘We must look there for the assumptions on which faculties of English Litertur were founded.’

The critical, textual, historical study of Greek and Latin literature not only gave precedent and justification for a similar study of the European vulgate; they were foundations on which that study was built. The second major assumption was nationalism. It is no accident that German philology and Germanic textual criticism coincided with the dynamic rise of the German national consciousness (and let us not forget that it was on the genius of the German scholars that the rest of Europe, England, and America drew so heavily). As Herder, the Grimm brothers, and the whole lineage of German literary teachers and critics were frank to proclaim, the study of one’s own literary past played a vital part in affirming national identity. The third major body of assumption is even more vital, but I find it difficult to analyze briefly. Perhaps I could put it this way: behind the formation of modern literary analysis, editorial scholarship, and literary history, lies a kind of rational and moral optimism. In its philological and historical methods the field of literary study reflects a large hope, a great positivism, an ideal of being something like a science, and we find this all the way from Auguste Comte to I. A. Richards.

As footnotes lengthen, as glossaries become more elementary (right now it might still be ‘Troilus: Trojan hero in love with Cressida, daughter of Calchas, and betrayed by her,’ but in a few years the Iliad itself may require identification), the poetry loses immediate impact. It moves out of any direct line of vision into a place of special learning. This fact marks a very large change in the consensus assumed between poet and public. The world of classical mythology, of historical reference, of scriptural allusion, on which a preponderant part of English and European literature is built from Chaucer to Milton and Dryden, from Tennyson to Eliot’s Sweeney Agonistes, is receding from our natural reach.

Nietzsche hat aber nicht nur die Chinesen kritisiert oder, sein bevorzugtes Ziel, die Deutschen, sondern auch die Amerikaner, weil sie den Prototyp des entfremdeten Menschen darstellten. Manche seiner Ausführungen klingen wie Steilvorlagen der Kulturkritik nach dem 2. Weltkrieg, und belegen die hohe Sensibilität des Psychologen Nietzsche, der das Gras wachsen hörte, und dessen Urteile Linke wie Rechte beeindruckte und beeinflusste.